Maurice
Schuhmann
Vive la Révolution!
Anarchistische Perspektiven auf die französische
Revolution
[Einleitung]
Die
französische Revolution gilt als die Geburtsstunde der modernen politischen
Ideologien – darunter sowohl der Sozialismus als auch der Liberalismus. Diese
beiden Ideologien sind auch der Nährboden, aus dem sich der klassische
Anarchismus entwickelt hat und in Bezug auf dessen Erbe sich die
unterschiedlichen Strömungen des klassischen Anarchismus in Individual- und
soziale Anarchismen ausdifferenziert haben. Gleichzeitig wurde die französische
Revolution häufig als Blaupause für spätere Revolutionen genutzt. So schrieb
der amerikanische Anarcho-Kommunitarist Murray Bookchin (1941-2006) in seiner
dreibändigen Studie The third revolution: „[T]he French Revolution
became a kind of template for revolutionary movements in the century and a half
followed.“ (Bookchin, Revolution, Band I, S. 248). Die marxistische
Rezeption der französischen Revolution ist weitestgehend bekannt (vgl. z.B.
Calvié, Révolutions; Jaeck, Revolution; Mazauric,
Histoire). Ähnlich wie diese Rezeptionslinie, werden auch in der
anarchistischen Rezeption einzelne Denker und Revolutionäre zu Vorläufern
(v)erklärt. So teilen sich Marxist*innen und Anarchist*innen die positive
Bezugnahme auf den katholischen Priester Jacques Roux (1752-1794) und Strömung
der Enragées[1] sowie partiell auch François
Noël „Gracchus“ Babeuf (1760-1797) sowie Babeufs Mistreiter Sylvain Maréchal
(1750-1803). Lediglich der Marquis de Sade, der gelegentlich als Libertärer und
Vorläufer des Anarchismus gehandelt wird, kann als unangefochtener Vorläufer
des Anarchismus betrachtet werden. Trotz seiner sozialistischen Ansätze wurde
er bislang nicht in diesem Kontext genannt, während es vereinzelt Erwähnungen
im anarchistischen Kontext gibt.
Vor
diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie im anarchistischen Diskurs die
französische Revolution beleuchtet und rezipiert wird. Der Frage, welche
Schlüsse z.B. für die Revolutionstheorie daraus abgeleitet werden, kann nur
partiell im Rahmen des Textes angerissen werden.
Für
die Untersuchung habe ich sowohl die klassischen Nachschlagewerke und
Gesamtdarstellungen des Anarchismus aus dem deutsch-, französisch- und
englischsprachigen Raum frequentiert als auch
bei den wichtigsten Protagonist*innen / Theoretiker*innen des
Anarchismus recherchiert. Eine kontinuierliche Auswertung der anarchistischen
Presse oder Vortragstätigkeit konnte leider nicht erfolgen.
[Gesamtdarstellungen]
In
den klassischen Gesamtdarstellungen des Anarchismus fehlt häufig die
Auseinandersetzung mit der französischen Revolution. Dies erklärt sich daraus,
dass man erst ab den 70er / 80er Jahre des 19. Jahrhunderts vom Entstehen einer
anarchistischen Bewegung sprechen kann (vgl. z.B. Maitron, Le mouvement),
d.h. zum Zeitpunkt der französischen Revolution könnte man höchstens von
Vorläufer*innen des Anarchismus sprechen. Zudem sind die meisten Abhandlungen
auf einzelne Denker*innen und Denkströmungen fixiert. Vor diesem Hintergrund
tauchen wenn überhaupt lediglich die Enzyklopädisten (vor allem Jean-Jacques
Rousseau, Voltaire, Dennis Diderot) auf, die der Revolution geistig den Boden
bereiteten. Diesen Aspekt möchte ich an dieser Stelle ebenfalls ausklammern,
dass sie zwar als Wegbereiter der Revolution gelesen werden können, an dieser
aber nicht mehr partizipierten.
Marquis
de Sade hingegen taucht dabei höchst selten auf (z.B. bei Marshall, Demanding).
In der 1930-1934 von Sébastien Faure herausgegebenen Encyclopedie Anarchiste
widmet sich Victore Méric in einem umfangreichen Exkurs unter dem Schlagwort
„Révolution“ der französischen Revolution. Spezifische Anknüpfungspunkte für
den Anarchismus werden dabei nicht benannt – ebenso fehlt erstaunlicher Weise
unter den Literaturangaben das Kropotkin‘sche Werk über die französische
Revolution, welches als das Standardwerk zur französischen Revolution aus
anarchistischer Sicht gilt und bis heute noch als Ressource in der
Auseinandersetzung mit der Thematik zitiert wird. Die Untersuchung Geschichte
des Sozialismus und Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart (1899) des Sozialisten George
Adler, die auch gleichberechtigt den Anarchismus als Strömung würdigt, bricht
leider zeitlich beim Beginn der französischen Revolution ab. Der geplante
zweite Band ist leider nie erschienen.
Jean
Préposiet widmet der Revolution in Bezug auf die Enragées in seiner Histoire
de l‘anarchisme ein eigenes Kapitel. Namentlich nimmt er bezüglich ihrer
Bedeutung für den Anarchismus Referenz auf Pierre-Jospeh Proudhon und benennt
u.a. auch das Konzept der direkten Aktion in diesem Kontext, aber insgesamt bleibt
es alles sehr vage. In anderen Darstellungen wird es meist auf einen Halbsatz
reduziert.
[Marquis
de Sade]
Im
Werk des Marquis de Sade, der bislang nur eine Marginalie in der
anarchistischen Ideengeschichte darstellt (vgl. z.B. Schuhmann, Marquis de
Sade), taucht der Begriff der „Anarchie“ lediglich einmal im pejorativen
Sinne auf. Sein Werk ist dennoch von großer Bedeutung für die
Auseinandersetzung mit der französischen Revolution bzw. mit dem Stillstand um
1793, den er als eine Art Rückfall in vorrevolutionäre Zeiten wahrnimmt. Die
Kritik am Stillstand findet sich in seinem Exkurs „Français,
encore un effort si vous voulez être
républicains“, der seinem pornographischen Diskurs Philosophie dans le
Boudoir (1793/95) integriert ist. In jenem Exkurs, der sich als
Verfassungsentwurf lesen läßt, finden sich ebenso wie in seinem philosophischen
Briefroman Aline et Valcour eine Reihe von Anknüpfungspunkten für den
anarchistischen Diskurs. Er predigt darin einen radikalen Individualismus,
kritisiert die Religion und Institutionen wie die Ehe, möchte den Staat
weitgehend abbauen und fordert eine permanente Revolution. Ursprünglich sollte
jener Diskurs in der von Graccus Babeuf publizierten Zeitung Correspondant
picard erscheinen. Die
Betrachtungen Sades zur französischen Revolution, zu der er ein äquivalentes
Verhältnis hatte, wie es in seinen Briefwechseln zum Ausdruck kommt, wurden
bislang im anarchistischen Diskurs nicht weiterverfolgt. Er wurde lediglich für
seine Moralkritik und seine Befreiung der Sexualität rezipiert – vor allem im
französischen, individualanarchistischen Diskurs (z. B. bei E. Armand).
[Frühsozialisten
und Enragées]
Unter
Umständen können auch vereinzelt andere Frühsozialisten als Vorläufer des
Anarchismus rezipiert werden. In seiner 1897 erschienen Bibliographie de
l‘anarchie benennt Nettlau neben Sylvain Maréchal und den sozialistischen
Priester Jacques Roux als Vorläufer des Anarchismus. Sylvain taucht auch noch
in seinem Vorfrühling der Anarchie in einem eigenen Kapitel auf. Hierin
heißt es überschwänglich über ihn:
„Der
erste, der freudig seine anarchistischen Ideen offen proklamierte oder
heraussang, war Sylvain Maréchal (geh. 15.
August 1750, gest. 18. Januar 1803), Dichter, Schriftsteller und Bibliothekar.
Dieser eigentümliche Mann umkleidete seine ganz bewußt antiautoritären und
durch und durch atheistischen Gedanken mit der tändelnden Grazie des
Watteauschen Hirtentums, er war aber auch der Verfasser oder ein Mitverfasser
des berühmten Manifeste der Gleichen der
Verschwörung Babeufs, in das er die freiheitliche Idee durch den bekannten Satz
einpflanzte, der den autoritären Kommunisten Buonarroti so verdroß:
Verschwindet, empörende Grenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten! (…) So
waren also wie früher durch Diderot, nach ihm durch Sylvain
Maréchal anarchistische Ideen in ziemlich auffälliger Form und auf
eine freundliche, an Verstand und Gefühl appellierende Weise vor das nach neuen
Ideen begierige Publikum der Vorrevolutionszeit gebracht worden, aber einen
Widerhall scheinen dieselben nicht gefunden zu haben; Maréchal blieb ein
Isolierter. Die autoritären Wellen gingen zu hoch.“ (Nettlau, Vorfrühling,
S. 34; 39).
Sylvains
Text Manifeste des Égaux hat auch
vereinzelt Einzug in frühsozialistische und anarchistische Textsammlungen
gefunden (vgl. z.B. Koll / Krause, Sozialisten; Graham, Anarchism).
Die
Haltung gegenüber Roux ändert sich bereits in jener Schrift Nettlaus gegenüber
der Bibliographie. Diesen ordnet er – ebenso wie die Enragées generell
dem autoritären Lager zu (vgl. Nettlau, Vorfrühling, S. 38).
In
einzelnen anarchistischen Gesamtdarstellungen tauchen sie ebenso wie Babeuf
dennoch auf (vgl. z.B. Boussinot, mots). Diese Denker fanden allerdings keinen direkten
Eingang in den anarchistischen Diskurs – und dürften mit einigem Recht eher vom
marxistisch-geprägten Sozialismus für sich beansprucht werden. Roux wurde u.a.
von dem in der DDR-ansässigen Reclam Verlag in Leipzig publiziert, während keine Veröffentlichung in
deutschsprachigen, anarchistischen Verlagen nachweisbar ist. Sylvain hingegen
wird nur vereinzelt in anarchistischen Zusammenstellungen abgedruckt (z.B.
Graham, Anarchism), während er weitestgehend „lediglich“ als Frühsozialist
rezipiert wird.
[Begriffsverwendung
vor und innerhalb der französischen Revolution]
Bereits
im Zeitalter der französischen Aufklärung war der Begriff der „Anarchie“
bekannt. In der Encyclopedie (1751) von Jean-Baptiste d‘Alembert
(1717-1783) und Diderot Diderot (1713-1784) wurde von letzterem der Begriff wie
folgt definiert:
„[C]‘est
un désordre dans un Etat, qui consist en ce que personne n‘y a assez d‘aurorité
pour commander et faire respecter les lois, et que par conséquent le peuple se
conduit comme il veut, sans subordination et sans police.“ (Diderot, Encyclopedie,
S. 362).[2]
Die
Substantivierung des Begriffs als Titulierung einer Person („anarchiste“)
taucht erst im Rahmen der französischen Revolution auf. Laut des französischen
Standardwörterbuchs Petit Robert sowie dem Beitrag von Peter Christian Ludz
und Christian Meier in dem von Otto Brunner herausgegebenen Standardwerk Geschichtliche
Grundbegriffe tauchte der Begriff „anarchiste“ erstmalig 1791 auf. Ulrich
Dierse erklärt im Historischen Wörterbuch der Philosophie hierzu:
„Der
zugehörige Begriff ‚Anarchismus‘ ist vor allem durch die Französische
Revolution aktuell geworden und wird schon damals als Neuschöpfung verstanden.“
(Dierse, Anarchismus, S. 274).
Die
Begriffsverwendung erfolgte ebenso wie beim Adjektiv im pejorativen Sinne – und
war zeitweilig nicht auf eine bestimmte politische Strömung festgeschrieben.
(Vgl u.a.: Deleplace, L‘anarchie; Schmück, Anarchie; Ludz /
Meier, Anarchie). „A bas les anarchistes!“ lautete der Ruf von
Robespierre vor dem Convent (vgl. Proudhon, Carnets, Band IV, S. 51). Er
verbreitete sich schnell als Schlachtruf auf den Straßen und Gassen des
revolutionären Frankreichs. Anarchisten – das waren Menschen, die sich gegen
die (vorhandene) Ordnung stellten, „Desorganisatoren“. Auch der Jakobiner und
spätere Girondist J. Brissot verlangte in seinem ersten Pamphlet Discours
sur la nécessité politique de révoquer le décret du 24 septembre 1791, eine
„Niederschlagung der Anarchie“ (vgl. Kropotkin, Die große französische
Revolution, Band II, S. 42). Er begründet dies u.a. mit den Worten: „Leur anarchie est
la satyre de notre révolution.“ (Brissot).[3]
Mit
ihnen wurde das Schlagwort „Anarchie“ und „Anarchist“ gesellschaftsfähig – wenn
auch im pejorativen Sinne. Dennoch stellt die französische Revolution einen
wichtigen Bezugspunkt für die anarchistische Ideengeschichte dar, weil der
Begriff in dieser Zeit aus der Versenkung auftaucht. Über mehrere Jahrhunderte
war er in Vergessenheit geraten – bzw. taucht nur sehr sporadisch auf. Nicht
zuletzt hat Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865), der Vater der Anarchie, in
Kenntnis der französischen Revolution und ihrer ablehnenden Gebrauchs des
Begriffs jenen als Selbsttitulierung in seinem Grundlagenwerk Qu‘est-ce la
propriete? gewählt.
„- Du bist Republikaner?
- Republikaner, ja; aber das Wort sagt nichts Bestimmtes.
Republica, das heißt die Wohlfahrt des Ganzen; nun wer sie will, gleichgültig
unter welcher Regierungsform, mag sich Republikaner nennen. Die Könige sind
auch Republikaner.
- Nun denn: Du bist Demokrat?
- Nein.
- Was! Du bist also Monarchist!
- Nein.
- Konstitutionalist?
- Gott bewahre mich davor.
- Du bist also Aristokrat?
- Keineswegs.
- Du bist für eine gemäßigte Regierungsform?
- Noch weniger.
- Was bist Du also?
- Ich bin Anarchist.“
(Proudhon,
Eigentum, S. 219).
[Proudhon
und der Begriff]
Der
Versuch, den Begriff umzudeuten, mündet in dem vielzitierten Satz „Anarchie ist
die Mutter der Ordnung“. Die Umdeutung hat nur partiell geklappt, wie sich in
der umgangssprachlichen Verwendung des Begriffs bis heue zeigt. Der
französische Anarchist Gaston Leval hat diesen Versuch später als größten Fehler
des Anarchismus bezeichnet.
Darüber
hinaus war die französische Revolution eine wichtige Ressource für das Denken
Proudhons. Der französische Soziologe Pierre Ansart benannte das Thema in
seinem Eintrag über „Révolution“ für das Dictionnaire de Proudhon als
eines der Hauptthemen im Werke Proudhons, was sich durch das Gesamtwerk ziehe.
Die französische Revolution bot immer wieder eine Referenz für die Entwicklung
und Begründung eigener Ideen und muss zur Untermalung seiner Thesen herhalten.
In seinem Text De la Justice (1858) stellt Proudhon eine explizite
Verbindung von französischer Revolution und Sozialismus her (vgl. Proudhon, De
la Justice, S. 97), was vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von
Anarchismus und Sozialismus von großem Interesse ist. Ein eigenständiges Werk
über jene Revolution ist er allerdings schuldig geblieben, stattdessen handelt
es sich lediglich um redundant auftauchende Referenzen in seinem Denken.
[Anarchistische
und libertäre Geschichtsschreibung]
Als
wichtigste Ressource der anarchistischen Geschichtsschreibung zur französischen
Revolution gilt das Werk von Pjotr Kropotkin. Er hatte bereits eine Reihe von
Artikeln zur Thematik publiziert, bevor sein fulminantes Werk über die große
französische Revolution erschien. In seiner Studie Die Große Französische
Revolution (1909) schreibt Kropotkin einleitend:
„An
uns, den Abkömmlingen derer, die die Zeitgenossen, die ‚Anarchisten‘ nannten,
ist es, diese Strömung, das Handeln des Volkes, zu erforschen und wenigstens
ihre wesentlichen Züge wiederherzustellen.“ (Kropotkin, Revolution, Band
I, S. 10).
An
späterer Stelle widmet er jenen ein eigenes Kapitel und versucht diese Strömung
näher zu definieren, was leider immer noch sehr oberflächlich bleibt. Nach ihm
sind es:
„Revolutionäre,
die in ganz Frankreich verstreut sind. Sie sind der Revolution mit Leib und
Seele ergeben, sie verstehen ihre Notwenigkeit, sie lieben sie und arbeiten für
sie.“ (Kropotkin, Revolution, Band II, S. 48).
Die
Ressource für seine Deutung ist lediglich der bereits zitierte Brissot.
Kropotkin sah weiterhin in den Handlungen und Taten der Revolutionäre, eine
Vorwegnahme der Ideen von William Godwin (ebd., S. 182), der als der
Protoanarchist gehandelt wird. Zu den Referenzen Kropotkins gehörte u.a. auch
Proudhons Les Confessions d’un révolutionnaire (1849). Eine Einordnung
von Kropotkins Werk im zeitgenössischen Diskurs nimmt C. Alexander McKinley in Illegtime
Children vor. Er erklärt darin auch jene positive Einstellung gegenüber der
französischen Revolution, die bei den Anarchisten jener Epoche auszumachen ist.
Kropotkins Versuch, eine Geschichte der französischen
Revolution zu schreiben war nicht unumstritten. Einzelne Weggefährten wie der
französische Anarchist Jean Grave waren skeptisch, ob dieses Projekt gelingen
könnte, da Kropotkin von Hause aus Geograph und nicht Historiker gewesen ist.
Dennoch avancierte Kropotkins Werk zu einem Standardwerk der anarchistischen
Betrachtung der französischen Revolution.
MacKinley bemerkt hierzu:
„The anarchist‘s positive position on the Revolution focussed
upon three critical elements. The first would be role played by the people, the
anonymous masses, be they the peasants in the countryside or the sans-culottes
in Paris. For the anarchists, the actions of unknown masses were the essence of
the Revolution. The second crucial element of their revolutionary narrative
would be that of the enragés, the radical and often obscure orators and
agitators, who inspired the people to action, particularly in 1793 and 1794.
The enragés provided the anarchists with a model for revolutionary organization
and activity that avoid the pitfalls of authority and political parties. The
enragés became the models for the anarchist secret revolutionary society.
Finally, the anarchists sought to prove that the driving factor of the
revolutionary activity by both the masses and the enragés was social and
economic in nature. They repeatedly argued that the French Revolution was a
social revolution.“ (McKinley, Illegitime Children, S. 12).
Der
angelsächsische Historiker George Woodcock schrieb in seinem einelietenden Text
Kropotkin‘s Great French Revolution über das Kropotkin‘sche Werk:
„In
the actions of the people of France in 1789 Kropotkin saw anarchism in action
even before its principles were worked out theoretically by William Godwin.“
(Woodcock, Kropotkin, S. 13).
Auch
Landauer verwies in seinem Text Zur Geschichte des Wortes „Anarchie“
(1909) auf den Ursprung des Begriffs in der französischen Revolution – unter
Rückgriff auf Kropotkin, dessen Werk er zeitgleich ins Deutsche übersetzte.
Weiterhin erklärt er in jenem Text:
„Es
wäre interessant festzustellen, ob der Eine oder Andere etwa diesen Schmähruf
akzeptiert hat. Mir ist darüber nichts bekannt.“ (Landauer, Anarchie, S.
69f.).
Weiterhin
verwies er – wie es später der anarchistische Historiker Max Nettlau tat – auf
William Godwin.
Landauers
1918 erstmals publizierte, zweibändige Briefedition – Briefe aus der
französischen Revolution – , die er
mit den Worten: „Einem Buche, das nicht von irgendeinem nachträglichen
Standpunkt aus über die Revolution sprechen will, sondern in dem die Revolution
selbst sich aussprechen soll, will ich nur das Notwendigste vorausschicken.“
(Landauer, Briefe, Band I, S. 5) – beginnt, kann als ein Versuche
gelesen werden, eine unvoreingenommene Geschichte der französischen Revolution
zu schreiben. Es handelt sich u.a. um Briefe und Texte von Charlotte Corday,
Camille Desmoulins und Ludwig XVI., aber auch um Briefe von unbekannten
Soldaten. Im Vorwort nimmt er an keiner Stelle Bezug auf den Anarchismus,
obwohl die Edition wahrscheinlich unter dem Eindruck von Kropotkins
umfangreicher Darstellung inspiriert gewesen sein dürfte. Einzelne Passagen der
von ihm übersetzen Passagen des Kropotkin‘schen Werkes erschienen auch separat
davon in dem von ihm herausgegebenen Sozialist[en].
Ebenfalls
im Kontext von Kropotkins Studie hat Max Nettlaus Vorfrühling der Anarchie (1925)
gelesen zu werden. Über einzelne Aspekte der französischen Revolution wie z.B.
die Rolle der Bauernerhebungen innerhalb dieser bestanden zwischen Nettlau, dem
„Herodot des Anarchismus“, und Kropotkin Differenzen (vgl. Dalin, Nachwort,
S. 323f.), die sich allerdings nicht in Nettlaus Geschichte der Anarchie
wiederfanden. Nettlau selber nimmt teilweise Bezug auf Kropotkin. Ebenso wie
dieser erklärte er:
„So
waren am Vorabend der Französischen Revolution in England manche außer-staatlichen und sich von der Autorität abwendenden
Elemente vorhanden; die französische Revolution unterbrach diese Entwicklung,
wie wir sehen werden – doch brachte sie noch ihre reichste und schärfste Frucht
in William Godwins großem Werk.“ (Nettlau, Vorfrühling, S. 59).
Die
lediglich kurze Thematisierung von der französischen Revolution im Werk von
Nettlau steht symptomatisch für die anarchistische Geschichtsschreibung der
französischen Revolution und läßt sich bis in die modernen Geschichtswerke des
Anarchismus weiterverfolgen.
In
dem mehrbändigen Kompendium Atheismus und seine Geschichte (1920-23) von
Fritz Mauthner, einem dem Anarchismus nahestehender Denker, wird die
französische Revolution nicht weiter erwähnt. Er beläßt es dabei, die Haltung
der Enzyklopädisten zur Religionsfrage zu thematisieren.
Claude
Harmel stellte auch in seiner Histoire de l‘Anarchie in seinem Kapitel
über die französische Revolution die Frage: „Y eut-il des anarchistes, un
mouvement anarchiste sous la Révolution française?“ (Harmel, Histoire,
S. 41). Er diskutiert in diesem Rahmen vor allem - wie auch Kropotkin bereits
vor ihm – die Strömung der Engagées. Sie sind wohl am ehesten in der
anarchistischen Geschichtsschreibung als Vorläufer anerkannt. Ebenso in seinem
gemeinsam mit Alain Sergent verfassten Band findet sich ein umfangreicher
Abschnitt zum Thema. Hier untersuchen sie die historische Entwicklung ab 1793,
wobei der Fokus neben den Engagés auch auf Jacques Roux gerichtet ist. Als
Referenz dient wie bei vielen anderen Texten auch Kropotkin.
Unter
den neueren anarchistischen Denkern, d.h. den Neo-Anarchisten, sticht Daniel
Guérin hervor. Er widmete der
französischen Revolution 1946 eine eigene Studie – La lutte des classes sous la Première République, 1793-1797 - , die
er in überarbeiteter und gekürzter Fassung 1968 unter dem Titel Bourgeois et bras-nus, 1793-1795 (dts.: Klassenkampf
in Frankreich) – eine Anspielung an den Marx-Titel Klassenkämpfe in
Frankreich 1848-1850 – erschien. In seiner Studie erwähnt er ebenso
wie Kropotkin Brissots Polemik – ohne näher auf die (vermeintlichen)
Anarchisten einzugehen (vgl. Guérin, Klassenkampf, S. 66) bzw. anarchistische
Impulse zu thematisieren. In seinem Einführungswerk L‘Anarchisme hat er
noch 1965 erklärt: „La Révolution française a accéléré cette marche invinvible
vers l‘anarchie.“ (Guérin, Anarchisme, S. 60).[4]
Der
amerikanische Anarcho-Kommunitarist Murray Bookchin hat sich im Zuge seiner
dreibändigen Studie The third revolution (1996-2003) eingehend
mit der französischen Revolution beschäftigt. Er erwähnt zwar vereinzelt
Korpotkin, aber die wichtigere Ressource ist die Auseinandersetzung mit der
Marx‘schen Theorie. Den Anarchismus oder prototypische Ansätze des Anarchismus
in der Revolution beleuchtet er nicht.
Neue
Ansätze wie der Beitrag von Brian Morris bauen auch nur auf Kropotkin und
Godwin auf – sowie vereinzelt auf Daniel Guérin.
[William
Godwin]
Das
Werk des englischen Protoanarchisten William Godwin ist durchzogen von
positiven Bezügen zur französischen Revolution – vor allem seinem 1793
verfassten Hauptwerk Enquiry concerning Political Justice and its Influence
on Modern Morals and Manners. Mehr noch als Verweise auf die Revolution als
solches finden sich Bezüge auf die französischen Aufklärer. Den Begriff
„Anarchie“ selber benutzte er im damals noch pejorativen Sinne. Es ist dennoch
bezeichnend, dass die direkte und indirekte Auseinandersetzung mit der französischen
Revolution einen solchen Stellenwert bei ihm – als direkten Vorläufer des
modernen Anarchismus – einnimmt.
[Michael
Bakunin]
Neben
den bereits erwähnten anarchistischen Theoretikern William Godwin und
Pierre-Joseph Proudhon läßt sich auch bei Michail Bakunin eine
Auseinandersetzung mit der französischen Revolution nachweisen. In vielen
seiner Texte, vor allem in der letzten Schaffensperiode, stellt die
französische Revolution eine wichtige Referenz dar. So nimmt er u.a. in seinem
1873 veröffentlichten Staatlichkeit und Anarchie (vgl. z.B. Bakunin, Staatlichkeit, S. 123, 163f)
wiederholt Bezug zur französischen Revolution. Als Beispiel hierfür läßt sich
die folgende Passage zitieren:
„So
brachte auch die Französische Revolution zwei Hauptströmungen hervor, die
einander zuwiderlaufen, sich ewig bekämpfen und doch untrennbar sind, besser
gesagt, sich notwendigerweise bei der Verfolgung ein und desselben Zieles
begegnen – nämlich der systematischen Ausbeutung des einfachen
Arbeiterproletariats zugunsten einer besitzenden, zahlenmäßig allmählich
abnehmenden, zugleich aber immer reicher werdenden Minderheit.“ (Bakunin, Staatlichkeit,
S. 163f).
René Berthier fasste die Bedeutung der
französischen Revolution für Bakunin in seinem Beitrag für das Kolloquium zum
200. Geburtstag der französischen Revolution mit den folgenden Worten zusammen:
„L‘intérêt
que porte Bakounine à la Révolution française s‘explique en partie par le rôle
qu‘il assigne à la science historique comme support de l‘action révolutionnnaire.“
(Berthier, Bakounine, S. 189).[5]
Damit
zeigt sich ein weiterer wichtiger Aspekt der anarchistischen Rezeption – die
Bezugnahme auf die Revolution als Referenz für die eigene Praxis. In ähnlicher
Weise lassen sich die Referenzen bei
Kropotkin – in den Texten Worte eines Rebellen oder Eroberung des
Brotes lesen.[6]
[Rudolf
Rocker]
Im
Kontext der anarchistischen Auseinandersetzung mit der Revolution lohnt sich auch
ein Blick in einen späten Text von Rudolf Rocker – Revolutionsmythologie und revolutionäre Wirklichkeit
(1952). Die eigenen biographischen Erfahrungen als junger Sozialist
reflektiert er:
„Auch
daß wir [die jungen Sozialisten] den großen Ereignissen von 1789 und der
Erklärung der Menschenrechte eine kleinere Bedeutung beilegten als der
Schreckenszeit von 1793 war nur selbstverständlich, denn wir wurden im
marxistischen Geiste erzogen und überzeugt, daß der Sozialismus nur durch die
Übergangsperiode der proletarischen Diktatur zu erreichen wäre.“ (Rocker, Revolutionsmythologie,
o.S.).
Im
weiteren Verlauf schreibt er darüber:
„Es
war das größte Verhängnis für die junge sozialistische Bewegung, daß sie zum
großen Teil bereits in ihrem Anfangsstadium unter den Einfluß der autoritären
Ideenströmungen der Zeit geriet, die aus den Überlieferungen von 1793 und der
langen Periode der napoleonischen Kriege hervorgegangen waren. Es waren gerade
jene Überlieferungen, die sich allmählich zu einem Revolutionskultus
verdichteten, der seinen Anhängern jedes Augenmaß für die wirkliche historische
Bedeutung der Großen Revolution raubte.“ (ebd.).
Als (anarchistische) Referenzen tauchen sowohl
Max Nettlau als auch Pierre-Joseph Proudhon auf. In Bezug auf letzteren
schreibt er:
„Unter
den großen Vorkämpfern des sozialistischen Gedankens in Frankreich war Proudhon
fast der einzige, der die geschichtliche Bedeutung des Sozialismus am tiefsten
erfaßt hatte. Mit großem Scharfsinn erkannte er, daß das Werk der Französischen
Revolution nur halb getan war und daß es die Aufgabe der Revolution des 19.
Jahrhunderts sein müsse, dieses Werk fortzusetzen und zur Vollendung zu
bringen, um die soziale Entwicklung Europas auf neue Bahnen zu führen.“ (ebd.).
[Max
Stirner]
Im
anarchistischen Diskurs nimmt Max Stirner (1806-1856) wieder einmal eine
Sonderstellung ein – wie so häufig.
„Bis
auf den heutigen Tag ist das Revolutionsprinzip dabei geblieben, nur gegen
dieses und jenes Bestehende anzukämpfen, d. h. reformatorisch zu sein. So viel
auch verbessert, so stark auch der „besonnene Fortschritt“ eingehalten werden
mag: immer wird nur ein neuer Herr an die Stelle des alten gesetzt, und der
Umsturz ist ein – Aufbau. Es bleibt bei dem Unterschiede des jungen von dem
alten Philister. Spießbürgerlich begann die Revolution mit der Erhebung des
dritten Standes, des Mittelstandes, spießbürgerlich versiegt sie. Nicht der
einzelne Mensch – und dieser allein ist der Mensch – wurde frei, sondern der
Bürger, der citoyen, der politische Mensch, der eben deshalb nicht der Mensch,
sondern ein Exemplar der Menschengattung, und spezieller ein Exemplar der
Bürgergattung, ein freier Bürger ist.
In
der Revolution handelte nicht der Einzelne weltgeschichtlich, sondern ein Volk:
die Nation, die souveräne, wollte alles bewirken. Ein eingebildetes Ich, eine
Idee, wie die Nation ist, tritt han- delnd auf, d. h. die Einzelnen geben sich
zu Werkzeugen dieser Idee her und handeln als ‚Bürger‘“ (Stirner, Einzige,
S. 119).
postuliert
Max Stirner in seinem Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (1844).
Wiederholt – besonders im ersten Teil des Buches – greift er auf Beispiele aus
der französischen Revolution zurück, um seine Aussagen zu untermauern. Er
greift auf Aussagen und Beispiele von Maximillian Robespierre, St. Just, Babeuf
und Comte de Mirabeau zurück, die er namentlich erwähnt bzw. indirekt zitiert.
Von jenen Politikern finden sich auch in der von Landauer editieren
Briefausgabe mit Beiträgen wieder.
Neben
seinem Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum befasste Stirner sich, in
dem unvollständig gebliebenen und kaum rezipierten Werk Geschichte der
Reaction (1852) mit den Reaktionen auf die französische Revolution.
Stirners Biograph John Henry Mackay bemerkte über dieses Werk:
„Der
Inhalt der beiden erschienen Bände nun ist zum geringsten Theil Stirner‘s
Eigenthum. Nicht nur der erste, sondern auch der zweite ist eine Sammlung
fremder Arbeit und nur die Einleitungen, die verbindenden Mittelglieder und die
Auswahl sind Stirner‘s Werk.
Zeugt
der erste von seiner gründlichen Kenntnis der Geschichtsschreiber des
Revolutionszeitalters, so beweist der letzte, mit welcher Aufmerksamkeit
Stirner das Jahr des Ausbruchs der Revolution in seinem eigenen Lande in allen
Erscheinungen verfolgt hat.“ (Mackay, Max Stirner, S. 199f.).
Für
die Frage nach Impulsen für die anarchistische Theoriebildung biete dieser Text
keine vertiefenden Impulse.
[Aktuelle
Situation]
Zum
200. Jahrestag des Sturms auf die Bastille fand in Paris unter Leitung des
Anarchismusforschers Gaetano Manfredonia eine Konferenz zur Thema „Les
anarchistes et la Révolution Française“ („Die Anarchisten und die Französische
Revolution“) statt. Ebenso erschien in der, dem 200. Jahrestag der
Französischen Revolution gewidmeten Ausgabe von History of European Ideas
ein Beitrag unter dem Titel „Anarchism and the French Revolution“ von G. Van
Gistere. Der oder die Autor/in jenes Artikels nimmt Referenz bei Kropotkin und
betrachtet die Engagées als Vorläufer des Anarchismus. In dem Rahmen finden
auch Frauen wie Olympe de Gouge, die die Erklärung der Frauenrechte
verfasst hat, Erwähnung, die zwar in einem feministischen Diskurs zu verorten
sind, aber mit dem originären Anarchismus hat sie nichts zu schaffen. Das Fazit
des Beitrages lautet dennoch: „In the history of the French Revolution,
anarchists found the proof of their statement; power is corrupt. The members of
the Assembly considered the revolution more as a political career than a
struggle for a political turn-over.“ (Van Gistere, Anarchism, S. 8). Die
eigentliche Frage bleibt jedoch unbeantwortet.
Insgesamt
ist in den letzten Jahrzehnten allerdings wenig zur französischen Revolution
publiziert worden. Sie steht im Schatten anderer revolutionärer Ereignisse in
der Geschichte, in denen eine anarchistische Beteiligung eindeutig sichtbar war
– sei es die Pariser Commune von 1871, die russische Revolution von 1917 oder
die soziale Revolution in Spanien von 1936-39, die sich im Zuge des
Bürgerkriegs entwickelte.
In
der von Paul Nursey-Bray verfassten Bibliographie Anarchist Thinkers and
Thoughts (1992) finden sich zehn Titel unter „Französische Revolution“
verschlagwortet, wovon sieben Titel sich alleine auf Kropotkin bzw. dessen
Rezeption beziehen.
Der,
dem Anarchismus zeitweilig nahestehende britische Historiker Eric Hobsbawm
nennt in seiner Untersuchung – The Age of Revolution (1964) – der
französischen Revolution an keiner Stelle Anknüpfungspunkte für den
Anarchismus. Die von Michel Onfray, einem libertären Philosophen, 2016
verfasste Studie La force du sexe faible. Contre-histoire de la Révolution
Française, einer Art alternativer Geschichtsschreibung zur Revolution,
fokussiert er sich auf die Rolle der Frauen in der französischen Revolution.
Auch in der anarchistischen Edition AV behandelt der einzige lieferbare Titel
zur Französischen Revolution – La Liberté - die Freiheit ist eine
Frau (2016) – diese Seite des Ereignisses, während die originäre,
anarchistische Betrachtung nicht mit einer eigenständigen Publikation gewürdigt
wird. Neben diversen Neuauflagen von Kropotkins und Landauers Werken zur
französischen Revolution ist der 15. Band aus der Reihe „Anarchistische Texte“
eine der wenigen Publikationen der Nachkriegszeit im deutschsprachigen Raum,
die das Thema aufgriffen.
[Janet
Biehl]
Eine
rühmliche Sonderstellung im anarchistischen Diskurs nimmt Janet Biehl ein. Im
Rahmen ihrer Überlegungen zur Organisation des libertären Kommunalismus greift
sie z.T. auf in der französischen Revolution erprobten Organisationsmodelle
zurück. Deutlich wird dies in ihrem Text The Politics of Social Ecology:
Libertarian Municipalism (1997). Darin verweist sie auf die
Selbstorganisation der Kommunen während der Revolution, die auch ein Vorbild
für die Organisation der Pariser Commune wurde. Sie spielt damit
augenscheinlich auf das imperative Mandat sowie den Rätegedanken an. Sie nennt
dabei die französische Revolution dabei – ohne näher darauf einzugehen –
lediglich als eine Referenz.
[Fazit]
Die
anarchistische Rezeption der französischen Revolution läßt sich demnach wie
folgt thesenartig zusammenfassen:
1.
Die französische Revolution stellt vereinzelt eine wichtige Referenz für die
anarchistische Selbsttitulierung (Pierre-Joseph Proudhon) und Theoriebildung
(Michael Bakunin, Pjotr Kropotkin, Murray Bookchin, Janet Biehl) dar. Hierfür
wird allerdings häufig lediglich selektiv auf einzelne Aspekte zurückgegriffen.
2.
Mit Pjotr Kropotkins fulminanter Studie Die Große Französische Revolution
(1909) begann die historische Auseinandersetzung mit dem Thema. Seine Studie
war eine direkte Referenz sowohl für Max Nettlau als auch für Gustav Landauer,
die beide ebenfalls für eine anarchistische Geschichtsschreibung der
französischen Revolution herangezogen werden können. Unabhängig davon
erschienen nach 1945 auch vereinzelte Studie mit libertärer Perspektive auf die
Revolution (Daniel Guérin, Michel Offray), die keine direkten Bezüge zu
Kropotkin aufweisen. Als Bezugspunkt dient (fast) allen Rezipienten der
französischen Revolution vor allem die anti-anarchistische Polemik von Brissot.
Die
französische Revolution wird dabei als prä-anarchistisch rezipiert; die Denkern
wie William Godwin den Weg bereitet, der im anarchistischen Diskurs häufig als
Anarchist avant la lettre gehandelt wird.
3.
Eine Minderheitenposition im anarchistischen Diskurs nimmt wiederum Max Stirner
ein, der die französische Revolution als Negativbeispiel aufgreift, um zu
zeigen, wie Revolutionen lediglich auf eine Einrichtung neuer Herrschaft
hinauslaufen. In gewisser Hinsicht läßt sich der Marquis de Sade hier als ein
Vorläufer denken, da er den Stillstand und die Implementierung der Revolution
als fehlerhaft ankreidete.
4.
Erstaunlicherweise ist die wichtigste Publikation nicht von einem Franzosen
verfasst, sondern von Kropotkin. Generell läßt sich eine länderübergreifende,
anarchistische Rezeption von jenem Ereignis erkennen. Im Vergleich zu dessen
Bedeutung für den Anarchismus fällt die Anzahl der Publikationen gering aus.
5.
Die französische Revolution steht – trotz ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung –
innerhalb der anarchistischen Geschichtsschreibung einerseits im Schatten der
Pariser Commune, als dessen Vorläuferin sie vereinzelt rezipiert wird,
andererseits im Schatten der Russischen und Spanischen Revolution.
6.
Die in der französischen Revolution entstandenen Organisationsformen, die
vereinzelt in der Literatur mit Rätestrukturen in Verbindung gesetzt werden,
finden keinerlei Niederschlag in der anarchistischen Literatur.
7.
Erstaunlicherweise werden vereinzelte Frühsozialisten wie z.B. Sylvain oder
Roux, die als Vorläufer des Anarchismus gehandelt werden, in anarchistischen
Publikationen fast gar nicht mehr thematisiert.
8.
Eine Auseinandersetzung mit dem marxistisch-geprägten Sozialismus bezüglich der
gemeinsamen Bezugnahme auf die Engagées findet nicht statt – weder von
marxistischer noch von anarchistischer Seite. Hierin zeigen sich wiederum die
gemeinsamen Wurzeln der beiden, feindlichen Brüder.
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S. 1-17.
[1]Die Engagées waren eine sozialrevolutionäre Gruppe, die sich Ende 1792
um den Priester Jacques Roux formierte.
[2] „Es ist eine Störung in einem Staat, die in der Tatsache
besteht, dass niemand genügend Autorität hat, um die Gesetze zu befehlen und
durchzusetzen, und dass sich die Menschen folglich so verhalten, wie sie es
wünschen, ohne Unterordnung und ohne Polizei.“
[3] „Ihre Anarchie ist
der Satyr unserer Revolution.“
[4]„Die Französische Revolution beschleunigte diesen unbesiegbaren
Marsch in Richtung Anarchie.“
[6]Vgl. zur Bedeutung der französischen Revolution für
Kropotkin: Brien, Simon: L‘influence de la révolution française sur la
pensée de Pierre Kropotkine.