Wir dokumentieren an dieser Stelle einen Vortrag, den Maurice Schuhmann am 12. Juli in Luzern im Rahmen de "IVR World Congress" gehalten hat.



Maurice Schuhmann
Vive la Révolution!
Anarchistische Perspektiven auf die französische Revolution


[Einleitung]
Die französische Revolution gilt als die Geburtsstunde der modernen politischen Ideologien – darunter sowohl der Sozialismus als auch der Liberalismus. Diese beiden Ideologien sind auch der Nährboden, aus dem sich der klassische Anarchismus entwickelt hat und in Bezug auf dessen Erbe sich die unterschiedlichen Strömungen des klassischen Anarchismus in Individual- und soziale Anarchismen ausdifferenziert haben. Gleichzeitig wurde die französische Revolution häufig als Blaupause für spätere Revolutionen genutzt. So schrieb der amerikanische Anarcho-Kommunitarist Murray Bookchin (1941-2006) in seiner dreibändigen Studie The third revolution: „[T]he French Revolution became a kind of template for revolutionary movements in the century and a half followed.“ (Bookchin, Revolution, Band I, S. 248). Die marxistische Rezeption der französischen Revolution ist weitestgehend bekannt (vgl. z.B. Calvié, Révolutions; Jaeck, Revolution; Mazauric, Histoire). Ähnlich wie diese Rezeptionslinie, werden auch in der anarchistischen Rezeption einzelne Denker und Revolutionäre zu Vorläufern (v)erklärt. So teilen sich Marxist*innen und Anarchist*innen die positive Bezugnahme auf den katholischen Priester Jacques Roux (1752-1794) und Strömung der Enragées[1] sowie partiell auch François Noël „Gracchus“ Babeuf (1760-1797) sowie Babeufs Mistreiter Sylvain Maréchal (1750-1803). Lediglich der Marquis de Sade, der gelegentlich als Libertärer und Vorläufer des Anarchismus gehandelt wird, kann als unangefochtener Vorläufer des Anarchismus betrachtet werden. Trotz seiner sozialistischen Ansätze wurde er bislang nicht in diesem Kontext genannt, während es vereinzelt Erwähnungen im anarchistischen Kontext gibt.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie im anarchistischen Diskurs die französische Revolution beleuchtet und rezipiert wird. Der Frage, welche Schlüsse z.B. für die Revolutionstheorie daraus abgeleitet werden, kann nur partiell im Rahmen des Textes angerissen werden.

Für die Untersuchung habe ich sowohl die klassischen Nachschlagewerke und Gesamtdarstellungen des Anarchismus aus dem deutsch-, französisch- und englischsprachigen Raum frequentiert als auch  bei den wichtigsten Protagonist*innen / Theoretiker*innen des Anarchismus recherchiert. Eine kontinuierliche Auswertung der anarchistischen Presse oder Vortragstätigkeit konnte leider nicht erfolgen.


[Gesamtdarstellungen]
In den klassischen Gesamtdarstellungen des Anarchismus fehlt häufig die Auseinandersetzung mit der französischen Revolution. Dies erklärt sich daraus, dass man erst ab den 70er / 80er Jahre des 19. Jahrhunderts vom Entstehen einer anarchistischen Bewegung sprechen kann (vgl. z.B. Maitron, Le mouvement), d.h. zum Zeitpunkt der französischen Revolution könnte man höchstens von Vorläufer*innen des Anarchismus sprechen. Zudem sind die meisten Abhandlungen auf einzelne Denker*innen und Denkströmungen fixiert. Vor diesem Hintergrund tauchen wenn überhaupt lediglich die Enzyklopädisten (vor allem Jean-Jacques Rousseau, Voltaire, Dennis Diderot) auf, die der Revolution geistig den Boden bereiteten. Diesen Aspekt möchte ich an dieser Stelle ebenfalls ausklammern, dass sie zwar als Wegbereiter der Revolution gelesen werden können, an dieser aber nicht mehr partizipierten.

Marquis de Sade hingegen taucht dabei höchst selten auf (z.B. bei Marshall, Demanding). In der 1930-1934 von Sébastien Faure herausgegebenen Encyclopedie Anarchiste widmet sich Victore Méric in einem umfangreichen Exkurs unter dem Schlagwort „Révolution“ der französischen Revolution. Spezifische Anknüpfungspunkte für den Anarchismus werden dabei nicht benannt – ebenso fehlt erstaunlicher Weise unter den Literaturangaben das Kropotkin‘sche Werk über die französische Revolution, welches als das Standardwerk zur französischen Revolution aus anarchistischer Sicht gilt und bis heute noch als Ressource in der Auseinandersetzung mit der Thematik zitiert wird. Die Untersuchung Geschichte des Sozialismus und Kommunismus von Plato bis  zur Gegenwart (1899) des Sozialisten George Adler, die auch gleichberechtigt den Anarchismus als Strömung würdigt, bricht leider zeitlich beim Beginn der französischen Revolution ab. Der geplante zweite Band ist leider nie erschienen.

Jean Préposiet widmet der Revolution in Bezug auf die Enragées in seiner Histoire de l‘anarchisme ein eigenes Kapitel. Namentlich nimmt er bezüglich ihrer Bedeutung für den Anarchismus Referenz auf Pierre-Jospeh Proudhon und benennt u.a. auch das Konzept der direkten Aktion in diesem Kontext, aber insgesamt bleibt es alles sehr vage. In anderen Darstellungen wird es meist auf einen Halbsatz reduziert.  


[Marquis de Sade] 
Im Werk des Marquis de Sade, der bislang nur eine Marginalie in der anarchistischen Ideengeschichte darstellt (vgl. z.B. Schuhmann, Marquis de Sade), taucht der Begriff der „Anarchie“ lediglich einmal im pejorativen Sinne auf. Sein Werk ist dennoch von großer Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der französischen Revolution bzw. mit dem Stillstand um 1793, den er als eine Art Rückfall in vorrevolutionäre Zeiten wahrnimmt. Die Kritik am Stillstand findet sich in seinem Exkurs „Français, encore un effort si vous voulez être républicains“, der seinem pornographischen Diskurs Philosophie dans le Boudoir (1793/95) integriert ist. In jenem Exkurs, der sich als Verfassungsentwurf lesen läßt, finden sich ebenso wie in seinem philosophischen Briefroman Aline et Valcour eine Reihe von Anknüpfungspunkten für den anarchistischen Diskurs. Er predigt darin einen radikalen Individualismus, kritisiert die Religion und Institutionen wie die Ehe, möchte den Staat weitgehend abbauen und fordert eine permanente Revolution. Ursprünglich sollte jener Diskurs in der von Graccus Babeuf publizierten Zeitung Correspondant picard erscheinen. Die Betrachtungen Sades zur französischen Revolution, zu der er ein äquivalentes Verhältnis hatte, wie es in seinen Briefwechseln zum Ausdruck kommt, wurden bislang im anarchistischen Diskurs nicht weiterverfolgt. Er wurde lediglich für seine Moralkritik und seine Befreiung der Sexualität rezipiert – vor allem im französischen, individualanarchistischen Diskurs (z. B. bei E. Armand).


[Frühsozialisten und Enragées]
Unter Umständen können auch vereinzelt andere Frühsozialisten als Vorläufer des Anarchismus rezipiert werden. In seiner 1897 erschienen Bibliographie de l‘anarchie benennt Nettlau neben Sylvain Maréchal und den sozialistischen Priester Jacques Roux als Vorläufer des Anarchismus. Sylvain taucht auch noch in seinem Vorfrühling der Anarchie in einem eigenen Kapitel auf. Hierin heißt es überschwänglich über ihn:

„Der erste, der freudig seine anarchistischen Ideen offen proklamierte oder heraussang, war Sylvain Maréchal (geh. 15. August 1750, gest. 18. Januar 1803), Dichter, Schriftsteller und Bibliothekar. Dieser eigentümliche Mann umkleidete seine ganz bewußt antiautoritären und durch und durch atheistischen Gedanken mit der tändelnden Grazie des Watteauschen Hirtentums, er war aber auch der Verfasser oder ein Mitverfasser des berühmten Manifeste der Gleichen der Verschwörung Babeufs, in das er die freiheitliche Idee durch den bekannten Satz einpflanzte, der den autoritären Kommunisten Buonarroti so verdroß: Verschwindet, empörende Grenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten! (…) So waren also wie früher durch Diderot, nach ihm durch Sylvain Maréchal anarchistische Ideen in ziemlich auffälliger Form und auf eine freundliche, an Verstand und Gefühl appellierende Weise vor das nach neuen Ideen begierige Publikum der Vorrevolutionszeit gebracht worden, aber einen Widerhall scheinen dieselben nicht gefunden zu haben; Maréchal blieb ein Isolierter. Die autoritären Wellen gingen zu hoch.“ (Nettlau, Vorfrühling, S. 34; 39).

Sylvains Text Manifeste des Égaux hat auch vereinzelt Einzug in frühsozialistische und anarchistische Textsammlungen gefunden (vgl. z.B. Koll / Krause, Sozialisten; Graham, Anarchism).

Die Haltung gegenüber Roux ändert sich bereits in jener Schrift Nettlaus gegenüber der Bibliographie. Diesen ordnet er – ebenso wie die Enragées generell dem autoritären Lager zu (vgl. Nettlau, Vorfrühling, S. 38).

In einzelnen anarchistischen Gesamtdarstellungen tauchen sie ebenso wie Babeuf dennoch auf (vgl. z.B. Boussinot, mots). Diese Denker fanden allerdings keinen direkten Eingang in den anarchistischen Diskurs – und dürften mit einigem Recht eher vom marxistisch-geprägten Sozialismus für sich beansprucht werden. Roux wurde u.a. von dem in der DDR-ansässigen Reclam Verlag in Leipzig  publiziert, während keine Veröffentlichung in deutschsprachigen, anarchistischen Verlagen nachweisbar ist. Sylvain hingegen wird nur vereinzelt in anarchistischen Zusammenstellungen abgedruckt (z.B. Graham, Anarchism), während er weitestgehend „lediglich“ als Frühsozialist rezipiert wird.


[Begriffsverwendung vor und innerhalb der französischen Revolution]
Bereits im Zeitalter der französischen Aufklärung war der Begriff der „Anarchie“ bekannt. In der Encyclopedie (1751) von Jean-Baptiste d‘Alembert (1717-1783) und Diderot Diderot (1713-1784) wurde von letzterem der Begriff wie folgt definiert:

„[C]‘est un désordre dans un Etat, qui consist en ce que personne n‘y a assez d‘aurorité pour commander et faire respecter les lois, et que par conséquent le peuple se conduit comme il veut, sans subordination et sans police.“ (Diderot, Encyclopedie, S. 362).[2]

Die Substantivierung des Begriffs als Titulierung einer Person („anarchiste“) taucht erst im Rahmen der französischen Revolution auf. Laut des französischen Standardwörterbuchs Petit Robert sowie dem Beitrag von Peter Christian Ludz und Christian Meier in dem von Otto Brunner herausgegebenen Standardwerk Geschichtliche Grundbegriffe tauchte der Begriff „anarchiste“ erstmalig 1791 auf. Ulrich Dierse erklärt im Historischen Wörterbuch der Philosophie hierzu:
„Der zugehörige Begriff ‚Anarchismus‘ ist vor allem durch die Französische Revolution aktuell geworden und wird schon damals als Neuschöpfung verstanden.“ (Dierse, Anarchismus, S. 274).

Die Begriffsverwendung erfolgte ebenso wie beim Adjektiv im pejorativen Sinne – und war zeitweilig nicht auf eine bestimmte politische Strömung festgeschrieben. (Vgl u.a.: Deleplace, L‘anarchie; Schmück, Anarchie; Ludz / Meier, Anarchie). „A bas les anarchistes!“ lautete der Ruf von Robespierre vor dem Convent (vgl. Proudhon, Carnets, Band IV, S. 51). Er verbreitete sich schnell als Schlachtruf auf den Straßen und Gassen des revolutionären Frankreichs. Anarchisten – das waren Menschen, die sich gegen die (vorhandene) Ordnung stellten, „Desorganisatoren“. Auch der Jakobiner und spätere Girondist J. Brissot verlangte in seinem ersten Pamphlet Discours sur la nécessité politique de révoquer le décret du 24 septembre 1791, eine „Niederschlagung der Anarchie“ (vgl. Kropotkin, Die große französische Revolution, Band II, S. 42). Er begründet dies u.a. mit den Worten: „Leur anarchie est la satyre de notre révolution.“ (Brissot).[3]

Mit ihnen wurde das Schlagwort „Anarchie“ und „Anarchist“ gesellschaftsfähig – wenn auch im pejorativen Sinne. Dennoch stellt die französische Revolution einen wichtigen Bezugspunkt für die anarchistische Ideengeschichte dar, weil der Begriff in dieser Zeit aus der Versenkung auftaucht. Über mehrere Jahrhunderte war er in Vergessenheit geraten – bzw. taucht nur sehr sporadisch auf. Nicht zuletzt hat Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865), der Vater der Anarchie, in Kenntnis der französischen Revolution und ihrer ablehnenden Gebrauchs des Begriffs jenen als Selbsttitulierung in seinem Grundlagenwerk Qu‘est-ce la propriete? gewählt.

„- Du bist Republikaner?
- Republikaner, ja; aber das Wort sagt nichts Bestimmtes. Republica, das heißt die Wohlfahrt des Ganzen; nun wer sie will, gleichgültig unter welcher Regierungsform, mag sich Republikaner nennen. Die Könige sind auch Republikaner.
- Nun denn: Du bist Demokrat?
- Nein.
- Was! Du bist also Monarchist!
- Nein.
- Konstitutionalist?
- Gott bewahre mich davor.
- Du bist also Aristokrat?
- Keineswegs.
- Du bist für eine gemäßigte Regierungsform?
- Noch weniger.
- Was bist Du also?
- Ich bin Anarchist.“
(Proudhon, Eigentum, S. 219).


[Proudhon und der Begriff]
Der Versuch, den Begriff umzudeuten, mündet in dem vielzitierten Satz „Anarchie ist die Mutter der Ordnung“. Die Umdeutung hat nur partiell geklappt, wie sich in der umgangssprachlichen Verwendung des Begriffs bis heue zeigt. Der französische Anarchist Gaston Leval hat diesen Versuch später als größten Fehler des Anarchismus bezeichnet. 

Darüber hinaus war die französische Revolution eine wichtige Ressource für das Denken Proudhons. Der französische Soziologe Pierre Ansart benannte das Thema in seinem Eintrag über „Révolution“ für das Dictionnaire de Proudhon als eines der Hauptthemen im Werke Proudhons, was sich durch das Gesamtwerk ziehe. Die französische Revolution bot immer wieder eine Referenz für die Entwicklung und Begründung eigener Ideen und muss zur Untermalung seiner Thesen herhalten. In seinem Text De la Justice (1858) stellt Proudhon eine explizite Verbindung von französischer Revolution und Sozialismus her (vgl. Proudhon, De la Justice, S. 97), was vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von Anarchismus und Sozialismus von großem Interesse ist. Ein eigenständiges Werk über jene Revolution ist er allerdings schuldig geblieben, stattdessen handelt es sich lediglich um redundant auftauchende Referenzen in seinem Denken. 


[Anarchistische und libertäre Geschichtsschreibung]
Als wichtigste Ressource der anarchistischen Geschichtsschreibung zur französischen Revolution gilt das Werk von Pjotr Kropotkin. Er hatte bereits eine Reihe von Artikeln zur Thematik publiziert, bevor sein fulminantes Werk über die große französische Revolution erschien. In seiner Studie Die Große Französische Revolution (1909) schreibt Kropotkin einleitend:

„An uns, den Abkömmlingen derer, die die Zeitgenossen, die ‚Anarchisten‘ nannten, ist es, diese Strömung, das Handeln des Volkes, zu erforschen und wenigstens ihre wesentlichen Züge wiederherzustellen.“ (Kropotkin, Revolution, Band I, S. 10).

An späterer Stelle widmet er jenen ein eigenes Kapitel und versucht diese Strömung näher zu definieren, was leider immer noch sehr oberflächlich bleibt. Nach ihm sind es:

„Revolutionäre, die in ganz Frankreich verstreut sind. Sie sind der Revolution mit Leib und Seele ergeben, sie verstehen ihre Notwenigkeit, sie lieben sie und arbeiten für sie.“ (Kropotkin, Revolution, Band II, S. 48).

Die Ressource für seine Deutung ist lediglich der bereits zitierte Brissot. Kropotkin sah weiterhin in den Handlungen und Taten der Revolutionäre, eine Vorwegnahme der Ideen von William Godwin (ebd., S. 182), der als der Protoanarchist gehandelt wird. Zu den Referenzen Kropotkins gehörte u.a. auch Proudhons Les Confessions d’un révolutionnaire (1849). Eine Einordnung von Kropotkins Werk im zeitgenössischen Diskurs nimmt C. Alexander McKinley in Illegtime Children vor. Er erklärt darin auch jene positive Einstellung gegenüber der französischen Revolution, die bei den Anarchisten jener Epoche auszumachen ist.

Kropotkins Versuch, eine Geschichte der französischen Revolution zu schreiben war nicht unumstritten. Einzelne Weggefährten wie der französische Anarchist Jean Grave waren skeptisch, ob dieses Projekt gelingen könnte, da Kropotkin von Hause aus Geograph und nicht Historiker gewesen ist. Dennoch avancierte Kropotkins Werk zu einem Standardwerk der anarchistischen Betrachtung der französischen Revolution.

MacKinley bemerkt hierzu:

„The anarchist‘s positive position on the Revolution focussed upon three critical elements. The first would be role played by the people, the anonymous masses, be they the peasants in the countryside or the sans-culottes in Paris. For the anarchists, the actions of unknown masses were the essence of the Revolution. The second crucial element of their revolutionary narrative would be that of the enragés, the radical and often obscure orators and agitators, who inspired the people to action, particularly in 1793 and 1794. The enragés provided the anarchists with a model for revolutionary organization and activity that avoid the pitfalls of authority and political parties. The enragés became the models for the anarchist secret revolutionary society. Finally, the anarchists sought to prove that the driving factor of the revolutionary activity by both the masses and the enragés was social and economic in nature. They repeatedly argued that the French Revolution was a social revolution.“ (McKinley, Illegitime Children, S. 12).

Der angelsächsische Historiker George Woodcock schrieb in seinem einelietenden Text Kropotkin‘s Great French Revolution über das Kropotkin‘sche Werk:

„In the actions of the people of France in 1789 Kropotkin saw anarchism in action even before its principles were worked out theoretically by William Godwin.“ (Woodcock, Kropotkin, S. 13).

Auch Landauer verwies in seinem Text Zur Geschichte des Wortes „Anarchie“ (1909) auf den Ursprung des Begriffs in der französischen Revolution – unter Rückgriff auf Kropotkin, dessen Werk er zeitgleich ins Deutsche übersetzte. Weiterhin erklärt er in jenem Text:
„Es wäre interessant festzustellen, ob der Eine oder Andere etwa diesen Schmähruf akzeptiert hat. Mir ist darüber nichts bekannt.“ (Landauer, Anarchie, S. 69f.).

Weiterhin verwies er – wie es später der anarchistische Historiker Max Nettlau tat – auf William Godwin.

Landauers 1918 erstmals publizierte, zweibändige Briefedition – Briefe aus der französischen Revolution  – , die er mit den Worten: „Einem Buche, das nicht von irgendeinem nachträglichen Standpunkt aus über die Revolution sprechen will, sondern in dem die Revolution selbst sich aussprechen soll, will ich nur das Notwendigste vorausschicken.“ (Landauer, Briefe, Band I, S. 5) – beginnt, kann als ein Versuche gelesen werden, eine unvoreingenommene Geschichte der französischen Revolution zu schreiben. Es handelt sich u.a. um Briefe und Texte von Charlotte Corday, Camille Desmoulins und Ludwig XVI., aber auch um Briefe von unbekannten Soldaten. Im Vorwort nimmt er an keiner Stelle Bezug auf den Anarchismus, obwohl die Edition wahrscheinlich unter dem Eindruck von Kropotkins umfangreicher Darstellung inspiriert gewesen sein dürfte. Einzelne Passagen der von ihm übersetzen Passagen des Kropotkin‘schen Werkes erschienen auch separat davon in dem von ihm herausgegebenen Sozialist[en].

Ebenfalls im Kontext von Kropotkins Studie hat Max Nettlaus Vorfrühling der Anarchie (1925) gelesen zu werden. Über einzelne Aspekte der französischen Revolution wie z.B. die Rolle der Bauernerhebungen innerhalb dieser bestanden zwischen Nettlau, dem „Herodot des Anarchismus“, und Kropotkin Differenzen (vgl. Dalin, Nachwort, S. 323f.), die sich allerdings nicht in Nettlaus Geschichte der Anarchie wiederfanden. Nettlau selber nimmt teilweise Bezug auf Kropotkin. Ebenso wie dieser erklärte er:

„So waren am Vorabend der Französischen Revolution in England manche außer-staatlichen  und sich von der Autorität abwendenden Elemente vorhanden; die französische Revolution unterbrach diese Entwicklung, wie wir sehen werden – doch brachte sie noch ihre reichste und schärfste Frucht in William Godwins großem Werk.“ (Nettlau, Vorfrühling, S. 59).

Die lediglich kurze Thematisierung von der französischen Revolution im Werk von Nettlau steht symptomatisch für die anarchistische Geschichtsschreibung der französischen Revolution und läßt sich bis in die modernen Geschichtswerke des Anarchismus weiterverfolgen.

In dem mehrbändigen Kompendium Atheismus und seine Geschichte (1920-23) von Fritz Mauthner, einem dem Anarchismus nahestehender Denker, wird die französische Revolution nicht weiter erwähnt. Er beläßt es dabei, die Haltung der Enzyklopädisten zur Religionsfrage zu thematisieren.

Claude Harmel stellte auch in seiner Histoire de l‘Anarchie in seinem Kapitel über die französische Revolution die Frage: „Y eut-il des anarchistes, un mouvement anarchiste sous la Révolution française?“ (Harmel, Histoire, S. 41). Er diskutiert in diesem Rahmen vor allem - wie auch Kropotkin bereits vor ihm – die Strömung der Engagées. Sie sind wohl am ehesten in der anarchistischen Geschichtsschreibung als Vorläufer anerkannt. Ebenso in seinem gemeinsam mit Alain Sergent verfassten Band findet sich ein umfangreicher Abschnitt zum Thema. Hier untersuchen sie die historische Entwicklung ab 1793, wobei der Fokus neben den Engagés auch auf Jacques Roux gerichtet ist. Als Referenz dient wie bei vielen anderen Texten auch Kropotkin. 
 
Unter den neueren anarchistischen Denkern, d.h. den Neo-Anarchisten, sticht Daniel Guérin  hervor. Er widmete der französischen Revolution 1946 eine eigene Studie – La lutte des classes sous la Première République, 1793-1797 - , die er in überarbeiteter und gekürzter Fassung 1968 unter dem Titel Bourgeois et bras-nus, 1793-1795 (dts.: Klassenkampf in Frankreich) – eine Anspielung an den Marx-Titel Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850 erschien. In seiner Studie erwähnt er ebenso wie Kropotkin Brissots Polemik – ohne näher auf die (vermeintlichen) Anarchisten einzugehen (vgl. Guérin, Klassenkampf, S. 66) bzw. anarchistische Impulse zu thematisieren. In seinem Einführungswerk L‘Anarchisme hat er noch 1965 erklärt: „La Révolution française a accéléré cette marche invinvible vers l‘anarchie.“ (Guérin, Anarchisme, S. 60).[4]

Der amerikanische Anarcho-Kommunitarist Murray Bookchin hat sich im Zuge seiner dreibändigen Studie The third revolution (1996-2003) eingehend mit der französischen Revolution beschäftigt. Er erwähnt zwar vereinzelt Korpotkin, aber die wichtigere Ressource ist die Auseinandersetzung mit der Marx‘schen Theorie. Den Anarchismus oder prototypische Ansätze des Anarchismus in der Revolution beleuchtet er nicht.

Neue Ansätze wie der Beitrag von Brian Morris bauen auch nur auf Kropotkin und Godwin auf – sowie vereinzelt auf Daniel Guérin.


[William Godwin]
Das Werk des englischen Protoanarchisten William Godwin ist durchzogen von positiven Bezügen zur französischen Revolution – vor allem seinem 1793 verfassten Hauptwerk Enquiry concerning Political Justice and its Influence on Modern Morals and Manners. Mehr noch als Verweise auf die Revolution als solches finden sich Bezüge auf die französischen Aufklärer. Den Begriff „Anarchie“ selber benutzte er im damals noch pejorativen Sinne. Es ist dennoch bezeichnend, dass die direkte und indirekte Auseinandersetzung mit der französischen Revolution einen solchen Stellenwert bei ihm – als direkten Vorläufer des modernen Anarchismus – einnimmt. 


[Michael Bakunin]   
Neben den bereits erwähnten anarchistischen Theoretikern William Godwin und Pierre-Joseph Proudhon läßt sich auch bei Michail Bakunin eine Auseinandersetzung mit der französischen Revolution nachweisen. In vielen seiner Texte, vor allem in der letzten Schaffensperiode, stellt die französische Revolution eine wichtige Referenz dar. So nimmt er u.a. in seinem 1873 veröffentlichten Staatlichkeit und Anarchie (vgl. z.B.  Bakunin, Staatlichkeit, S. 123, 163f) wiederholt Bezug zur französischen Revolution. Als Beispiel hierfür läßt sich die folgende Passage zitieren:

„So brachte auch die Französische Revolution zwei Hauptströmungen hervor, die einander zuwiderlaufen, sich ewig bekämpfen und doch untrennbar sind, besser gesagt, sich notwendigerweise bei der Verfolgung ein und desselben Zieles begegnen – nämlich der systematischen Ausbeutung des einfachen Arbeiterproletariats zugunsten einer besitzenden, zahlenmäßig allmählich abnehmenden, zugleich aber immer reicher werdenden Minderheit.“ (Bakunin, Staatlichkeit, S. 163f).

 René Berthier fasste die Bedeutung der französischen Revolution für Bakunin in seinem Beitrag für das Kolloquium zum 200. Geburtstag der französischen Revolution mit den folgenden Worten zusammen:

„L‘intérêt que porte Bakounine à la Révolution française s‘explique en partie par le rôle qu‘il assigne à la science historique comme support de l‘action révolutionnnaire.“ (Berthier, Bakounine,  S. 189).[5]

Damit zeigt sich ein weiterer wichtiger Aspekt der anarchistischen Rezeption – die Bezugnahme auf die Revolution als Referenz für die eigene Praxis. In ähnlicher Weise lassen sich  die Referenzen bei Kropotkin – in den Texten Worte eines Rebellen oder Eroberung des Brotes lesen.[6]


[Rudolf Rocker]
Im Kontext der anarchistischen Auseinandersetzung mit der Revolution lohnt sich auch ein Blick in einen späten Text von Rudolf Rocker – Revolutionsmythologie und revolutionäre Wirklichkeit (1952). Die eigenen biographischen Erfahrungen als junger Sozialist reflektiert er:

„Auch daß wir [die jungen Sozialisten] den großen Ereignissen von 1789 und der Erklärung der Menschenrechte eine kleinere Bedeutung beilegten als der Schreckenszeit von 1793 war nur selbstverständlich, denn wir wurden im marxistischen Geiste erzogen und überzeugt, daß der Sozialismus nur durch die Übergangsperiode der proletarischen Diktatur zu erreichen wäre.“ (Rocker, Revolutionsmythologie, o.S.).

Im weiteren Verlauf schreibt er darüber:

„Es war das größte Verhängnis für die junge sozialistische Bewegung, daß sie zum großen Teil bereits in ihrem Anfangsstadium unter den Einfluß der autoritären Ideenströmungen der Zeit geriet, die aus den Überlieferungen von 1793 und der langen Periode der napoleonischen Kriege hervorgegangen waren. Es waren gerade jene Überlieferungen, die sich allmählich zu einem Revolutionskultus verdichteten, der seinen Anhängern jedes Augenmaß für die wirkliche historische Bedeutung der Großen Revolution raubte.“ (ebd.).

 Als (anarchistische) Referenzen tauchen sowohl Max Nettlau als auch Pierre-Joseph Proudhon auf. In Bezug auf letzteren schreibt er:

„Unter den großen Vorkämpfern des sozialistischen Gedankens in Frankreich war Proudhon fast der einzige, der die geschichtliche Bedeutung des Sozialismus am tiefsten erfaßt hatte. Mit großem Scharfsinn erkannte er, daß das Werk der Französischen Revolution nur halb getan war und daß es die Aufgabe der Revolution des 19. Jahrhunderts sein müsse, dieses Werk fortzusetzen und zur Vollendung zu bringen, um die soziale Entwicklung Europas auf neue Bahnen zu führen.“ (ebd.).


[Max Stirner]
Im anarchistischen Diskurs nimmt Max Stirner (1806-1856) wieder einmal eine Sonderstellung ein – wie so häufig.

„Bis auf den heutigen Tag ist das Revolutionsprinzip dabei geblieben, nur gegen dieses und jenes Bestehende anzukämpfen, d. h. reformatorisch zu sein. So viel auch verbessert, so stark auch der „besonnene Fortschritt“ eingehalten werden mag: immer wird nur ein neuer Herr an die Stelle des alten gesetzt, und der Umsturz ist ein – Aufbau. Es bleibt bei dem Unterschiede des jungen von dem alten Philister. Spießbürgerlich begann die Revolution mit der Erhebung des dritten Standes, des Mittelstandes, spießbürgerlich versiegt sie. Nicht der einzelne Mensch – und dieser allein ist der Mensch – wurde frei, sondern der Bürger, der citoyen, der politische Mensch, der eben deshalb nicht der Mensch, sondern ein Exemplar der Menschengattung, und spezieller ein Exemplar der Bürgergattung, ein freier Bürger ist.
In der Revolution handelte nicht der Einzelne weltgeschichtlich, sondern ein Volk: die Nation, die souveräne, wollte alles bewirken. Ein eingebildetes Ich, eine Idee, wie die Nation ist, tritt han- delnd auf, d. h. die Einzelnen geben sich zu Werkzeugen dieser Idee her und handeln als ‚Bürger‘“ (Stirner, Einzige, S. 119).
postuliert Max Stirner in seinem Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (1844). Wiederholt – besonders im ersten Teil des Buches – greift er auf Beispiele aus der französischen Revolution zurück, um seine Aussagen zu untermauern. Er greift auf Aussagen und Beispiele von Maximillian Robespierre, St. Just, Babeuf und Comte de Mirabeau zurück, die er namentlich erwähnt bzw. indirekt zitiert. Von jenen Politikern finden sich auch in der von Landauer editieren Briefausgabe mit Beiträgen wieder. 
Neben seinem Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum befasste Stirner sich, in dem unvollständig gebliebenen und kaum rezipierten Werk Geschichte der Reaction (1852) mit den Reaktionen auf die französische Revolution. Stirners Biograph John Henry Mackay bemerkte über dieses Werk:

„Der Inhalt der beiden erschienen Bände nun ist zum geringsten Theil Stirner‘s Eigenthum. Nicht nur der erste, sondern auch der zweite ist eine Sammlung fremder Arbeit und nur die Einleitungen, die verbindenden Mittelglieder und die Auswahl sind Stirner‘s Werk.
Zeugt der erste von seiner gründlichen Kenntnis der Geschichtsschreiber des Revolutionszeitalters, so beweist der letzte, mit welcher Aufmerksamkeit Stirner das Jahr des Ausbruchs der Revolution in seinem eigenen Lande in allen Erscheinungen verfolgt hat.“ (Mackay, Max Stirner, S. 199f.).

Für die Frage nach Impulsen für die anarchistische Theoriebildung biete dieser Text keine vertiefenden Impulse.    


[Aktuelle Situation]
Zum 200. Jahrestag des Sturms auf die Bastille fand in Paris unter Leitung des Anarchismusforschers Gaetano Manfredonia eine Konferenz zur Thema „Les anarchistes et la Révolution Française“ („Die Anarchisten und die Französische Revolution“) statt. Ebenso erschien in der, dem 200. Jahrestag der Französischen Revolution gewidmeten Ausgabe von History of European Ideas ein Beitrag unter dem Titel „Anarchism and the French Revolution“ von G. Van Gistere. Der oder die Autor/in jenes Artikels nimmt Referenz bei Kropotkin und betrachtet die Engagées als Vorläufer des Anarchismus. In dem Rahmen finden auch Frauen wie Olympe de Gouge, die die Erklärung der Frauenrechte verfasst hat, Erwähnung, die zwar in einem feministischen Diskurs zu verorten sind, aber mit dem originären Anarchismus hat sie nichts zu schaffen. Das Fazit des Beitrages lautet dennoch: „In the history of the French Revolution, anarchists found the proof of their statement; power is corrupt. The members of the Assembly considered the revolution more as a political career than a struggle for a political turn-over.“ (Van Gistere, Anarchism, S. 8). Die eigentliche Frage bleibt jedoch unbeantwortet.

Insgesamt ist in den letzten Jahrzehnten allerdings wenig zur französischen Revolution publiziert worden. Sie steht im Schatten anderer revolutionärer Ereignisse in der Geschichte, in denen eine anarchistische Beteiligung eindeutig sichtbar war – sei es die Pariser Commune von 1871, die russische Revolution von 1917 oder die soziale Revolution in Spanien von 1936-39, die sich im Zuge des Bürgerkriegs entwickelte.

In der von Paul Nursey-Bray verfassten Bibliographie Anarchist Thinkers and Thoughts (1992) finden sich zehn Titel unter „Französische Revolution“ verschlagwortet, wovon sieben Titel sich alleine auf Kropotkin bzw. dessen Rezeption beziehen.

Der, dem Anarchismus zeitweilig nahestehende britische Historiker Eric Hobsbawm nennt in seiner Untersuchung – The Age of Revolution (1964) – der französischen Revolution an keiner Stelle Anknüpfungspunkte für den Anarchismus. Die von Michel Onfray, einem libertären Philosophen, 2016 verfasste Studie La force du sexe faible. Contre-histoire de la Révolution Française, einer Art alternativer Geschichtsschreibung zur Revolution, fokussiert er sich auf die Rolle der Frauen in der französischen Revolution. Auch in der anarchistischen Edition AV behandelt der einzige lieferbare Titel zur Französischen Revolution La Liberté - die Freiheit ist eine Frau (2016) – diese Seite des Ereignisses, während die originäre, anarchistische Betrachtung nicht mit einer eigenständigen Publikation gewürdigt wird. Neben diversen Neuauflagen von Kropotkins und Landauers Werken zur französischen Revolution ist der 15. Band aus der Reihe „Anarchistische Texte“ eine der wenigen Publikationen der Nachkriegszeit im deutschsprachigen Raum, die das Thema aufgriffen.


[Janet Biehl]
Eine rühmliche Sonderstellung im anarchistischen Diskurs nimmt Janet Biehl ein. Im Rahmen ihrer Überlegungen zur Organisation des libertären Kommunalismus greift sie z.T. auf in der französischen Revolution erprobten Organisationsmodelle zurück. Deutlich wird dies in ihrem Text The Politics of Social Ecology: Libertarian Municipalism (1997). Darin verweist sie auf die Selbstorganisation der Kommunen während der Revolution, die auch ein Vorbild für die Organisation der Pariser Commune wurde. Sie spielt damit augenscheinlich auf das imperative Mandat sowie den Rätegedanken an. Sie nennt dabei die französische Revolution dabei – ohne näher darauf einzugehen – lediglich als eine Referenz.


[Fazit]
Die anarchistische Rezeption der französischen Revolution läßt sich demnach wie folgt thesenartig zusammenfassen:


1. Die französische Revolution stellt vereinzelt eine wichtige Referenz für die anarchistische Selbsttitulierung (Pierre-Joseph Proudhon) und Theoriebildung (Michael Bakunin, Pjotr Kropotkin, Murray Bookchin, Janet Biehl) dar. Hierfür wird allerdings häufig lediglich selektiv auf einzelne Aspekte zurückgegriffen.
 
2. Mit Pjotr Kropotkins fulminanter Studie Die Große Französische Revolution (1909) begann die historische Auseinandersetzung mit dem Thema. Seine Studie war eine direkte Referenz sowohl für Max Nettlau als auch für Gustav Landauer, die beide ebenfalls für eine anarchistische Geschichtsschreibung der französischen Revolution herangezogen werden können. Unabhängig davon erschienen nach 1945 auch vereinzelte Studie mit libertärer Perspektive auf die Revolution (Daniel Guérin, Michel Offray), die keine direkten Bezüge zu Kropotkin aufweisen. Als Bezugspunkt dient (fast) allen Rezipienten der französischen Revolution vor allem die anti-anarchistische Polemik von Brissot.

Die französische Revolution wird dabei als prä-anarchistisch rezipiert; die Denkern wie William Godwin den Weg bereitet, der im anarchistischen Diskurs häufig als Anarchist avant la lettre gehandelt wird.  

3. Eine Minderheitenposition im anarchistischen Diskurs nimmt wiederum Max Stirner ein, der die französische Revolution als Negativbeispiel aufgreift, um zu zeigen, wie Revolutionen lediglich auf eine Einrichtung neuer Herrschaft hinauslaufen. In gewisser Hinsicht läßt sich der Marquis de Sade hier als ein Vorläufer denken, da er den Stillstand und die Implementierung der Revolution als fehlerhaft ankreidete.

4. Erstaunlicherweise ist die wichtigste Publikation nicht von einem Franzosen verfasst, sondern von Kropotkin. Generell läßt sich eine länderübergreifende, anarchistische Rezeption von jenem Ereignis erkennen. Im Vergleich zu dessen Bedeutung für den Anarchismus fällt die Anzahl der Publikationen gering aus.

5. Die französische Revolution steht – trotz ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung – innerhalb der anarchistischen Geschichtsschreibung einerseits im Schatten der Pariser Commune, als dessen Vorläuferin sie vereinzelt rezipiert wird, andererseits im Schatten der Russischen und Spanischen Revolution.

6. Die in der französischen Revolution entstandenen Organisationsformen, die vereinzelt in der Literatur mit Rätestrukturen in Verbindung gesetzt werden, finden keinerlei Niederschlag in der anarchistischen Literatur.

7. Erstaunlicherweise werden vereinzelte Frühsozialisten wie z.B. Sylvain oder Roux, die als Vorläufer des Anarchismus gehandelt werden, in anarchistischen Publikationen fast gar nicht mehr thematisiert.

8. Eine Auseinandersetzung mit dem marxistisch-geprägten Sozialismus bezüglich der gemeinsamen Bezugnahme auf die Engagées findet nicht statt – weder von marxistischer noch von anarchistischer Seite. Hierin zeigen sich wiederum die gemeinsamen Wurzeln der beiden, feindlichen Brüder.

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[1]Die Engagées waren eine sozialrevolutionäre Gruppe, die sich Ende 1792 um den Priester Jacques Roux formierte.
[2]Es ist eine Störung in einem Staat, die in der Tatsache besteht, dass niemand genügend Autorität hat, um die Gesetze zu befehlen und durchzusetzen, und dass sich die Menschen folglich so verhalten, wie sie es wünschen, ohne Unterordnung und ohne Polizei.“
[3] „Ihre Anarchie ist der Satyr unserer Revolution.“
[4]„Die Französische Revolution beschleunigte diesen unbesiegbaren Marsch in Richtung Anarchie.“
[5]Bakunins Interesse an der Französischen Revolution erklärt sich zum Teil aus der Rolle, die er der Geschichtswissenschaft als Stütze für revolutionäre Aktionen zuweist.“
[6]Vgl. zur Bedeutung der französischen Revolution für Kropotkin: Brien, Simon: L‘influence de la révolution française sur la pensée de Pierre Kropotkine.