Max Franz Johann Schnetker

Die Freiheit, die sie meinen.

Eine Untersuchung über die Beschränkung individueller Autonomie als Projekt des Digitalen Kapitalismus

 

 

    Ist die Beraubung des Produzenten der mehr oder weniger verschleierte Zweck der kapitalistischen Produktion, so ist der Betrug an den Konsumenten der eigentliche Zweck des kapitalistischen Handelns. - Rudolf Rocker, Prinzipienerklärung des Syndikalismus 

    Eine Analyse, die sich über die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit verständigen will, muss immer bedenken, dass sie diese Bedingungen stets nur vor dem Hintergrund eines historischen Moments bestimmen kann. In einer Gesellschaft, in der der Lebensvollzug sowohl der Einzelnen als auch der Gesellschaft vermittelt durch Technik stattfindet, macht es eine solche Analyse nötig, die technischen Gegebenheiten in den Blick zu nehmen. Wir haben in den letzten gut zwanzig Jahren einen technologischen Umbruch erlebt, der die Bedingungen von Freiheit radikal verändert hat. Die technologische Umwelt, in der wir uns heute bewegen, hat ein neues Feld der Auseinandersetzung um individuelle Autonomie als Bedingung von Freiheit eröffnet. In diesem Artikel möchte ich versuchen, den Gehalt der aktuellen Entwicklungen von der Technik her nachzuvollziehen. So soll Autonomie negativ bestimmt werden: als dasjenige, aus dessen projektierter Beseitigung der Digitale Kapitalismus sein Gewinnversprechen zieht. 

    Wir bewegen uns in einer immer enger geschnürten Umwelt technischer Manipulation. Das ist nicht wirklich ein Geheimnis und sollte spätestens seit dem Skandal um das Unternehmen Cambridge Analytica jedem politisch interessierten Menschen bewusst sein. Ausgerechnet die sich emanzipatorisch nennende Linke hat zu diesen neuen Formen von Macht allerdings bisher nur wenig zu sagen.

Das frappiert um so mehr, als dass der Antifaschismus eigentlich zum Kerngeschäft dieses Teils der Linken gehört. Das Aufkommen der Manipulationsinfrastrukturen des Digitalen Kapitalismus war für faschistische Bewegungen ein Geschenk von historischem Ausmaß. Autoritäre und Menschenfeinde aller Art sind in den letzten Jahren auch in demokratisch organisierten Staaten an die Schlüsselpositionen der Macht gelangt. Eine Ursache dafür ist, dass wir einige Jahre zuvor die Grundlagen unseres sozialen Miteinanders einer kleinen Gruppe von Technologiekonzernen zur freien Verfügung überantwortet haben, in einem Akt der kollektiven Unterwerfung. Diese Technologiekonzerne unterliegen aber, man hätte es damals nicht ahnen können, den Notwendigkeiten der Kapitalverwertung und machen die ihnen zur Verwaltung überlassenen Beziehungen zu eben diesem Zweck fruchtbar. Die Förderung faschistischer Bewegungen ließ sich dabei zwar lange Zeit nicht als bewusst verfolgte politische Intention ausmachen, sie ergab sich aber ganz organisch aus der Verfolgung des Unternehmenszwecks. Der Unternehmenszweck ist die Bindung der Aufmerksamkeit der Konsumentin und das Erstellen von Modellen über dieselbe. Auf der Basis dieser Modelle soll dann die Aufmerksamkeit der Konsumentin auf die Produkte der Werbekundinnen gelenkt werden, die sehr häufig zugleich als Verkäuferinnen auf den unternehmenseigenen Plattformen agieren. Das Versprechen, eine große Anzahl Konsumentinnen an ihre Plattformen zu binden und deren Konsumentscheidungen zumindest auf stochastischer Ebene vorhersagen zu können, ist der eigentliche Service, den Unternehmen wie Facebook und Google anbieten. Dafür sind jedoch Inhalte auf den Plattformen nötig, die möglichst starke affektive Reaktionen in der Nutzerin hervorrufen, sie in die Interaktion mit dieser technologischen Umwelt binden und ihre Fähigkeit zur bewussten Reflexion möglichst unterlaufen. „Wütende Leute klicken viel.“1 Auf die Nachfrage des Silicon Valley nach solchen Inhalten passt das Angebot der Ästhetik und Propaganda faschistischer Bewegungen wie Arsch auf Eimer. Eine Feststellung daher gleich vorweg: Ohne die Zerschlagung von Facebook und Google werden sich die Faschismen des 21. Jahrhunderts nicht aufhalten lassen. Enteignung oder Barbarei.2

Über den Tellerrand

Große Teile der antiautoritären Linken haben die Entwicklung der globalen Manipulationsinfrastrukturen verpennt. Andere Teile haben sich bereitwillig unterworfen, weil es eben damals so viel praktischer war, Dinge über Facebook zu organisieren, als sich persönlich zu treffen oder eigene digitale Infrastrukturen aufzubauen und zu pflegen. Glücklicherweise gibt es mittlerweile auch einiges an Forschung, die das Thema aus kapitalismuskritischer Perspektive untersucht, etwa die Arbeiten von Phillip Staab zum Digitalen Kapitalismus3, Timo Daums Sachbücher über das Verhältnis von Kapital und sogenannter Künstlicher Intelligenz4, sowie Forschung aus dem Umfeld der Rosa Luxemburg Stiftung5. Dennoch kommen die einflussreichsten Kritiken am Aufkommen der Manipulationsinfrastrukturen bisher aus liberaler und konservativer Richtung. Insbesondere zwei dieser Kritiker möchte ich im Fortgang als Grundlage meiner Untersuchung heranziehen, es sind James Williams und Shoshana Zuboff. Ich werde sie ins Verhältnis zu den kapitalismuskritischen Untersuchungen setzen, um so die Thematik aus verschiedenen Positionen zu beleuchten.

James Williams nimmt als Kritiker eine ungewöhnliche, aber sehr interessante Position ein. Er arbeitete mehrere Jahre in der Werbeabteilung des Google Mutterkonzerns Alphabet, bevor ihm zunehmend deutlicher wurde, dass das Geschäft seines Unternehmens in der Steuerung der Aufmerksamkeit seiner Kunden bestand. Williams kritisiert diesen Umstand aus einer klassisch liberalen Perspektive. Die Eingriffe der Digitalkonzerne in die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer kritisiert er als Einschränkung des Rechts auf selbstbestimmte Persönlichkeitsentwicklung und Lebensführung. Er beschreibt dabei drei Dimensionen, in denen ‚feindliche Technologien‘, die wir zwar im Alltag nutzen, die aber anderer Leute Zwecken dienen als den unseren, die Fähigkeit zur autonomen Lebensführung ihrer Nutzerinnen unterminieren. In Anlehnung an die historische Anekdote, nach der Diogenes zu Alexander dem Großen gesagt habe, er solle ihm aus dem Licht gehen, sind diese Dimensionen nach drei Formen von Licht benannt, deren Wahrnehmung uns die Technologiekonzerne verstellen. Die erste Dimension „The Spotlight“ bezeichnet die unmittelbare Ablenkung des Fokus unserer Aufmerksamkeit von den Dingen, auf die wir unsere Aufmerksamkeit eigentlich richten wollten. Stattdessen unterbrechen uns aufdringliche Handyapps und alle möglichen Gadgets hunderte Male am Tag, um unsere Aufmerksamkeit auf das zu lenken, womit wir uns nach Ansicht ihrer Entwickler beschäftigen sollten.6 Die zweite Dimension „The Starlight“ bezeichnet die Behinderung unserer Lebensführung über die Zeit. Feindliches Design und Millionen kleiner Ablenkungen summieren sich und hindern uns daran ein Leben zu führen, das unseren Selbstentwürfen entspricht.7 Die dritte Dimension schließlich, „The Daylight“ bezeichnet die Einschränkung fundamentaler Fähigkeiten wie Reflexion, Entspannung und Zielsetzung unter der technologischen Dauerbeschallung. Williams nennt diesen Zustand „epistemische Ablenkung“.8

In der Summe ergebe sich eine politische Gefahr, da den Menschen unter dem technologischen Trommelfeuer die Kapazitäten mündiger Staatsbürgerinnen abhandenkämen und Politik zum Geschäft des digitalen Mobs werde.

Unfortunately, mob rule is hard-coded into the design of the attention economy. In this way, it can be considered a kind of society-wide utility function that optimizes for extremism, which may at times even manifest as terrorism.“

Die zurzeit prominenteste wissenschaftliche Kritik an den neuen Manipulationsinfrastrukturen stammt von der Ökonomin Shoshana Zuboff. Sie bezeichnet diese Überwachungsinfrastrukturen als Überwachungskapitalismus. Der Überwachungskapitalismus wird ihrer Auffassung nach nicht von spezifischen Technologien geprägt, sondern von neuartigen ökonomischen Imperativen. Sie geht davon aus, dass diese neuartigen ökonomischen Imperative sich aus einer neuen Akkumulationslogik ergeben: akkumuliert werde nicht mehr Kapital, sondern „Verhaltensüberschuss“.9 Das Ziel der einzelnen Akteurinnen des Überwachungskapitalismus sei die Erstellung von Vorhersageprodukten und der Handel mit diesen an Verhaltensterminkontraktmärkten. Dies seien von den Unternehmen betriebene Märkte, an denen die Option, aus dem vorhergesagten Verhalten der Nutzerinnen Profit zu ziehen, an Werbekundinnen versteigert werde. Aus diesen Imperativen ergebe sich das Endziel des Überwachungskapitalismus: die Regulation der Gesellschaft nach dem Vorbild maschinellen Lernens.

Dass die Entwicklung unserer heutigen technologischen Umwelt von Anfang an mit dem Ziel erfolgt ist, die Autonomie der technologisch verwalteten Subjekte auszuhebeln, weist Shoshana Zuboff unter anderem anhand eines frühen Patents von Google nach. Im Jahr 2003 reichten Googles führende Informatiker ein Patent mit dem Titel >Generating user Information for use in targeted advertising< ein. Bereits in diesem Patent wird die Autonomie als technisch zu lösendes Problem verhandelt, wie Zuboff in ihrer Analyse darlegt:

Von kritischer Bedeutung für unsere Geschichte ist die Beobachtung der Wissenschaftler, dass die großen Herausforderungen hierbei nicht etwa technischer, sondern vielmehr >sozialer< Art sind. Sand kommt ins Getriebe, wenn Nutzer es absichtlich versäumen, Informationen zu liefern, und sei es einfach nur, weil sie nicht wollen. [...] Die Wissenschaftler lassen also keinen Zweifel daran, dass sie Willens ̶ und durch ihre Erfindungen in der Lage ̶ sind, den im Entscheidungsrecht des Nutzers implizierten ‚Sand im Getriebe‘ zu überwinden. Googles proprietäre Methoden ermöglichen es dem Unternehmen, Verhaltensüberschuss zu überwachen, zu erfassen, zu erweitern, zu konstruieren und zu beanspruchen; was auch für Daten gilt, die der Nutzer ganz bewusst nicht mit anderen teilen will. Widerspenstige Nutzer sind also keine Hindernisse für die Datenenteignung.“10

Es zeigt sich also, dass schon in den Jugendjahren des Internets individuelle Autonomie als technisch zu lösendes Problem, als ‚Sand im Getriebe‘ betrachtet wurde. Man ist allerdings keineswegs bei der simplen Enteignung persönlicher Daten stehen geblieben, sondern hantiert heute mit Technologien, die zumindest versprechen das Problem der Autonomie umfassend zu beheben. Wie Zuboff zeigt, ist es keineswegs ein Zufall, dass ausgerechnet jene Unternehmen, die damals diesen Persönlichkeitsrechte mißachtenden Ansatz verfolgten, heute zu weltumspannenden Konzernen geworden sind, die die Distributionsbedingungen und damit einen Teil der Grundlagen unserer sozialen Umwelt prägen.

Die empirische Seite von Zuboffs Untersuchung ist eine wichtige wissenschaftliche Ressource, um die Kritikerinnen des Digitalen Kapitalismus kaum herum kommen. Die analytische Leistung ihres Buches wird aber deutlich dadurch geschmälert, das sie mit der Kritik des Digitalen Kapitalismus zugleich eine Ehrenrettung des vordigitalen Kapitalismus zu betreiben versucht. Überwachungskapitalismus und fordistischer Kapitalismus werden gegeneinandergestellt, als deutlich verschiedene Gesellschaftsformen, von denen nur die erstere von illegitimer Ausbeutung geprägt sei. Dieses Projekt der Ehrenrettung des fordistischen Kapitalismus macht ihre Analyse zum Teil schwer lesbar und dürfte auch hinter der kaum haltbaren These stehen, das wir es hier mit einer gänzlich neuen Akkumulationsform zu tun haben. Akkumuliert werde im Überwachungskapitalismus nicht mehr Mehrwert aus Arbeit, sondern Verhaltensüberschuss aus der Erfahrung der Konsumentinnen. Das Mittel dazu sei die Extraktion von persönlichen Daten.

Die Idee, das technologische Innovation die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft als Grundlage des Kapitalismus aus dem Produktionsprozess verdrängen findet sich allerdings auch bei Autorinnen, denen eine Ehrenrettung des Kapitalismus fernliegt. So orientiert sich Timo Daum an Theoretikerinnen, die einen Wandel weg von der Ausbeutung von Arbeitskraft hin zu einer Aneignung und Ausbeutung des >general Intellect<, des eigentlich allgemeinverfügbaren gesellschaftlichen Wissens annehmen. Hinzu trete die Ausbeutung der Nutzerinnen der großen Plattformen, die eine Mischung aus Kundin und Arbeiterin seien.11 Diese Ausbeutung diene der Extraktion von Daten, die Daum, ähnlich wie Zuboff, ins Zentrum einer neuen Wirtschaftsweise rückt.12

Digitaler Kapitalismus

Es gibt viele Indizien, die einer solchen Analyse widersprechen. Da wäre die historische Beobachtung, dass sich das Narrativ einer kreativen Maschine, die die Arbeiterinnen vollumfänglich ersetzen wird, sich bis an den Beginn des Maschinenzeitalters zurückverfolgen lässt. Seit den dreißiger Jahren das neunzehnten Jahrhunderts wird dieses Narrativ bei jedem technologischen Umbruch aktualisiert.13 Auch der Verweis auf das Konzept des >general intellect< wirft die Frage auf, wie sich denn dieser realisiert, wenn nicht in Form des Wissens konkreter Personen. Schon zu Beginn des Internetzeitalters hat André Gorz das Aufkommen neuer Produktionsmethoden beschrieben, in denen nicht einzeln isolierbare Arbeitshandlungen entscheidend für die Wertbildung sind, sondern das „lebendige Wissen“ der Designer und Erfinder. Dies bedinge neue Formen von Arbeit, bei der die gesamte Persönlichkeit für den Verwertungsprozess mobilisiert werden müsse.14 Aber auch das ist eine Form der Ausbeutung von Arbeitskraft, wenn auch der des Geistes und nicht der der Hand. Global gesehen handelt es sich bei solchen kreativen Geistesarbeitern weiterhin um eine Minderheit unter den Lohnabhängigen, daran hat auch die Digitalisierung nichts geändert. Dennoch ist deutlich zu beobachten, dass in den letzten zehn Jahren heftige Verschiebungen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gegeben hat. Die wertvollsten Unternehmen sind heute nicht mehr Autohersteller oder die Giganten der Konsumgüterindustrie, sondern die Unternehmen der GAFA Gruppe (Google, Apple, Facebook, Amazon). Es stellt sich natürlich die Frage, was es ist, dass diese Unternehmen eigentlich herstellen. Es ist offensichtlich, dass es irgendetwas mit Daten zu tun haben muss. Bevor man sich jetzt aber daran macht, die Ablösung des Industriekapitalismus durch eine datenbasierte Wirtschaftsform zu verkünden, sollte man die Analyse mit Hilfe der Arbeiten von Phillip Staab vom Kopf auf die Füße stellen. Laut Staab sind die Unternehmen der GAFA Gruppe eben nicht primär produktive Unternehmen, die Profit über die Abschöpfung des Mehrwerts, der in die von ihnen produzierten Waren eingeht, erwirtschaften. Sie haben vielmehr alle den Charakter von Märkten in Privatbesitz.

Auf die eine oder andere Weise trifft die Logik proprietärer Märkte auf alle Konzerne des Gafa-Komplexes zu, ohne dass einer von ihnen gänzlich auf dieses Modell reduziert werden könnte. Facebook ist zuvordererst ein soziales Netzwerk ̵ aber es ist eben auch zu einer Art Markt für Informationen geworden, über den die Mehrheit der Menschen Nachrichten bezieht [...]. Amazon verdient exorbitante Summen mit seiner Cloud-Sparte Amazon Web Services, stellt aber zugleich dasjenige Gafa unternehmen dar, in dem über die eigene Handelsplattform die Logik der Kapitalisierung durch Marktbesitz am stärksten durchgesetzt ist und nach wie vor am nachdrücklichsten verfolgt wird. [...] Apple ist auf den ersten Blick ein Unternehmen, das noch am ehesten Ähnlichkeit mit herkömmlichen Produzenten aufweist, da es die überwiegende Mehrheit seiner Gewinne mit dem Verkauf von Endgeräten erwirtschaftet. Allerdings war Apple mit dem Ipod und dem angebundenen Itunes-Store auch der Pionier des Profitmodells, und der App-Store ist nicht nur der Inbegriff eines umfassenden proprietären Marktes, sondern auch eine schnell wachsende und immer wichtiger werdende Profitquelle.“15

Ich werde mich im Folgenden an der These orientieren, dass die neu entstandene soziale Umwelt von digital geregelter Warendistribution und Verhaltensregulation keinen Bruch mit den herkömmlichen Erscheinungsformen des Kapitalismus darstellt, sondern lediglich eine Ergänzung auf der Seite der Distribution und Konsumtion ist. Die Digitalisierung hat den Prozess der Kapitalverwertung nicht zerbrochen, sondern ihm vielmehr eine neue Stütze beiseite gestellt. Daher übernehme ich auch nicht den Begriff des Überwachungskapitalismus, zu dessen Spezifik diese Idee eines Bruches gehört, sondern verwende den Begriff des Digitalen Kapitalismus, der auf eine digitale Aktualisierung der bekannten kapitalistischen Gesellschaftsformation verweist.

 Das Falsche im Richtigen

Es mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, aber der Entwicklung des heutigen Digitalen Kapitalismus liegt ein fundamentales Problem zugrunde: Die Digitalisierung, insbesondere das Internet, weist über den Kapitalismus hinaus. An allen Ecken und Enden wollen die Artefakte der Digitalisierung und die mit ihnen zusammen hängenden Produktionsweisen nicht so recht in die kapitalistische Gesellschaftsformation passen. Das geht bei dem ganz Grundsätzlichen los, der Trennung von Arbeiterin und Produktionsmittel. Von dieser kann im Hinblick auf Software und darin realisierter Produkte wohl kaum gesprochen werden, wenn die Bevölkerung flächendeckend PCs zuhause rumstehen hat. Es setzt sich dann aber auch direkt bei den digitalen Produkten fort: Diese lassen sich mit kaum bemerkbarem Ressourceneinsatz beliebig kopieren und ohne Verlust teilen. Damit sind sie als Waren, also als Träger der Wertzirkulation kaum geeignet, da sie von den technologischen Möglichkeiten her als Commons verfügbar sind. Sie müssen durch gesetzliche und maschinelle Regelungen verknappt werden, um überhaupt als Waren zu funktionieren.16 Es ist paradox: Unter den Bedingungen des Kapitalismus wird die Unknappheit bestimmter Güter zu einem großen ökonomischen Problem. Mit dem Verkauf von etwas, das für alle umsonst verfügbar ist, lässt sich kein Gewinn machen. Laut Phillip Staab besteht die historische Besonderheit des Digitalen Kapitalismus, der sich gerade entwickelt, darin, auf dieses Problem der Unknapptheit eine Antwort gefunden zu haben. Die Leitunternehmen des Digitalen Kapitalismus sind ihrer Tendenz nach selbst Märkte. Wenn ein Unternehmen die Distribution von Gütern umfassend kontrolliert und über diese Distribution Renten abschöpft, ist es kein Problem mehr, dass diese Güter theoretisch unknapp wären. Die soziotechnischen Ökosysteme aus Endnutzerinnen, Hard- und Software, die sie teilweise ohne direkte Kosten für die Nutzerinnen ausrollen, dienen dazu, diese Marktfunktion zu erkämpfen und zu stabilisieren.17

Diese Strategie der Verknappung eigentlich unknapper Güter ist der Kern der Kapitalisierung des digitalen Wandels. Eine frühe Form bestand darin, durch Kopierschutz und Rechtemanagement den Zugriff auf digitale Güter zu regulieren. Dagegen erhoben sich wiederum Bewegungen für freie Software und freies Wissen, die versuchen, die der Digitalisierung innewohnenden Potenziale für kollektives Arbeiten und freien Austausch zu realisieren. Mit beachtlichem Erfolg muss man sagen, von Wikipedia bis Linux hat diese Bewegung entscheidende Säulen unserer aktuellen Lebensform hervorgebracht. Dennoch liefert diese neue Art der Produktion digitaler Güter als Commons keine Perspektive für die Überwindung des Kapitalismus. Denn die unentgeltliche Nutzung freier Softwareinfrastruktur ist aus den Verwertungsprozessen der ausbeuterischsten Digitalkonzerne nicht mehr wegzudenken. Ein weiteres Paradoxon: Google, dessen Geschäft darin besteht, seine Marktgleichheit zu kapitalisieren, betreibt die Serverinfrastruktur, die ihm genau dies ermöglicht, mit der freien Software Linux.18 Aber eigentlich ist dies kein Wunder, denn wer in der Nachbarschaft kapitalistisch organisierter Unternehmen digitale Commons betreibt, der ergeht es wie den Bewohnerinnen der schottischen Highlands im achtzehnten Jahrhundert. Diese betrieben kollektive Landwirtschaft nach dem Prinzip der Commons, bis sie in blutigen Vertreibungen enteignet wurden, um ihr Kollektivland in private Weideflächen zu verwandeln. Diesen Prozess der blutigen Vertreibung bezeichnet Karl Marx als ursprüngliche Akkumulation, als Beginn der kapitalistischen Wirtschaftsform.

Der Raub der Kirchengüter, die fraudulente Veräußerung der Staatsdomänen, der Diebstahl des Gemeindeeigentums, die usurpatorische und mit rücksichtslosem Terrorismus vollzogne Verwandlung von feudalem und Claneigentum in modernes Privateigentum, es waren ebenso viele idyllische Methoden der ursprünglichen Akkumulation. Sie eroberten das Feld für die kapitalistische Agrikultur, einverleibten den Grund und Boden dem Kapital und schufen der städtischen Industrie die nötige Zufuhr von vogelfreiem Proletariat.“19

Im einundzwanzigsten Jahrhundert vollzog sich ein ähnlicher Prozess, wenn auch weniger gewalttätig. Aus dem Potenzial eines kollektiv betriebenen Internets, in dem unknappe digitale Güter für Alle zur Verfügung stehen, wurden eingezäunte Lebenswelten in Konzernbesitz, die zur Extraktion privater Gewinne genutzt werden. Für den allergrößten Teil der Nutzerinnen sind die Angebote von Facebook und Google heute mit dem Internet identisch. Zugleich vollzieht sich mit der Verbreitung von Smartphones und Tablets als Endgeräten eine neue Beschränkung des Zugangs zu Produktionsmitteln. PCs können als Produktionsmittel für Software genutzt werden. Smartphones sind reine Endgeräte für vorgefertigte Software Produkte.

A Boring Dystopia

Der Kapitalismus erweist sich als sehr resilient. Hoffnungen, dass er sich von selbst abschafft, sind bisher immer enttäuscht worden. Wir erleben gerade eine neue Enttäuschung. Weder die prinzipielle Unknappheit digitaler Güter, noch eine neue Produktionsform in Commons wird dazu führen, dass das Gewaltverhältnis des Kapitals sich einfach so auflöst. Unter den Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz verwirklichen sich vor allem die Potenziale von Technologie, die sich unmittelbar gewinnbringend einsetzen lassen. Viele Angebote der heute dominierenden Digitalkonzerne sind für deren Nutzerinnen vordergründig umsonst oder liegen preislich deutlich unter den Angeboten der Konkurrenz. Staab analysiert das als Subventionierung der Produkte durch Risikokapital, mit dem Zweck der Marktschließung. Dabei werde die Bilanz eines Unternehmens auf dem Weg zur Marktdominanz systematisch durch sehr hohe Summen von Risikokapitalgeberinnen bezuschusst.20 Dies ermögliche es, die Konkurrenz systematisch zu unterbieten, die Nachfrage fast vollständig an eine Plattform zu binden und mit der so erlangten Kontrolle über die Konsumentinnen gegenüber den Produzentinnen de facto als Markteignerin aufzutreten. Dabei bleibt allerdings ein wichtiger Aspekt unterbeleuchtet: Die neuen marktgleichen Unternehmen des Digitalen Kapitalismus erlangen die Kontrolle über die Angebotsseite nicht bloß durch die schiere Menge der Konsumentinnen auf ihren Plattformen. Sie machen den Produzentinnen auch ein unwiderstehliches Versprechen: garantierte Absätze. Durch die umfassende digitale Erfassung der an die Plattformen gebundenen Konsumentinnen und die Steuerung ihrer Aufmerksamkeit soll erreicht werden, dass keine Verkaufsgelegenheit verpasst wird und zum anderen neue erzeugt werden. Verbrauchssteigerung um jeden Preis. Dieser Aspekt des Digitalen Kapitalismus wird durch Zuboffs Arbeit belegt,21 auch wenn ihre weitere theoretische Deutung kritikwürdig ist.

Man ist es als Endkundin gewohnt, die Adressatin der Ware gewordenen Vielfalt zu sein. Die klassische Kultur- und Werbeindustrie tut ihr Übriges dafür, der Kundin zu vermitteln, sie selbst beziehungsweise ihre Bedürfnisbefriedigung sei der Endzweck der gesamten kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Diese narzisstische Täuschung sitzt so tief, dass sie bei vielen immer noch als Welterklärung haften bleibt, selbst wenn ihnen der Wahnsinn der kapitalistischen Produktion schier ins Gesicht schlägt. Angesichts der allgegenwärtigen Umweltzerstörung und des Leids, das mit der kapitalistischen Produktion einhergeht, vermuten sie dessen Ursache in der Gier der Konsumentinnen. Abhilfe gegen diese Zustände können sie sich dann ebenfalls nur als Eingriff an der Supermarktkasse vorstellen, als generelles Umschwenken auf ökologischen und nachhaltigen Konsum. Verunmöglicht ein solches Denken es ohnehin schon, die Gegebenheiten der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen, wird sie vor dem Hintergrund des Digitalen Kapitalismus gänzlich zum Betrug.

Denn in den digitalen Lebenswelten die die GAFA-Unternehmen bereitstellen,22 ist die Konsumentin eine weitere regulierbare Ressource für den Zweck der Kapitalverwertung. Die Eignerinnen der proprietären Märkte, die diese digitalen Lebenswelten zugleich sind, versprechen den auf ihren Plattformen aktiven Händlerinnen, nicht nur einen sicher gebundenen, exklusiv verfügbaren Kundenstamm. Sie versprechen auch gesteigerte Absätze durch die totale Durchleuchtung der auf ihren Plattformen präsenten Konsumentinnen. Diese Optionen auf Absätze werden als Werbemöglichkeiten in Echtzeit versteigert, was Zuboff unter dem etwas umständlichen Begriff Verhaltensterminkontraktmärkte fasst.23 Dass die großen Plattformen ‚umsonst‘ genutzt werden können, liegt einzig darin begründet, dass man auch Heringen ihren Aufenthalt in Schleppnetzen nicht in Rechnung stellt. Neben der Subventionierung durch Risikokapital ist es dieses Versprechen garantierter Umsätze, das den Erfolg der GAFA-Unternehmen bedingt.

Die Kundinnen von Google sind nicht nur die Nutzerinnen ihrer Onlinedienste, sondern auch die Unternehmen, an die Google möglichst genaue Modelle und Vorhersagen des Verhaltens seiner Nutzerinnen verkauft. Suchmaschinen, Mailingdienste und die diversen Social Media Plattformen sind technologischen Ökosysteme, die die Nutzerinnen lebensweltlich einbinden und die Erstellung mathematischer Modelle über ihre Verhalten ermöglichen. Sie sind also die Schleppnetze, mit denen diese Unternehmen die Ressource akquirieren, deren exklusiven Zugang sie dann kapitalisieren. Die Kundinnen, die für diesen Zugang bezahlen, sind die Giganten der Old Economy, die mit dem grundsätzlichen Problem ringen, möglichst sicher möglichst viele ihre Produkte abzusetzen. Das klassische Instrument dafür ist die Reklame. Das Aufkommen des Digitalen Kapitalismus hat es nun ermöglicht, die in der Reklame immer schon vorhandene Tendenz zu Autoritarismus und Manipulation vollends zur Entfaltung zu bringen. Die Nutzerin soll umfänglich mathematisch modelliert werden, und zugleich sollen Digitalgeräte möglichst eng den Vollzug ihres Alltags durchweben. Das Ziel ist dabei das gleiche wie schon früher bei der analogen Werbung: die Umgehung der zur Kritik fähigen Subjektivität der Konsumentin und ihre Steuerung auf dem Niveau vorbewussten Verhaltens. Der Grundimpetus, Menschen als steuerbare Konsum-Maschinen zu denken, ist auch im Digitalen Kapitalismus derselbe geblieben. Nun sollen es die historisch neuartigen Möglichkeiten, Daten über die Konsumentin zu ernten, ermöglichen, dieses Unterfangen auf ganz neue Weise zu realisieren. Dabei entpuppte sich die Problemstellung, Reklame möglichst effektiv zu gestalten, also das Bewusstsein der Konsumentin möglichst umfassend zu umgehen, als passende Problemstellung zu den Lösungen, die Maschinenlernen und KI anbieten können:

Yet the affinity between advertising and AI extends well beyond the incidental fact that advertising is the current business context in which much leading AI development today occurs. In particular, the problem space of advertising is an extremely good fit for the capabilities of AI: it combines a mind-boggling mutliplicity of inputs (e.g. contextual, behavioral, and other user signals) with the laserlike specificity of a clear binary goal (i.e. typically the purchase, or „conversion,“ as it´s often called.“24

Dieses Zusammenlaufen der Zwecke von Werbung und den Mitteln von KI bildet wohl den Kern des aktuellen Hypes, der Daten als Basis einer neuen Wertschöpfung ausmacht. Das dies zeitgleich auftritt mit Ideologien, die eine generelle Ablösung des Menschen durch überlegene Maschinen erwarten, ist nicht ganz zufällig.25

Haltet den Dieb!

Die Bücher von Zuboff und Williams sind wichtige Grundlagen für die Entwicklung einer treffenden Kritik an der aufkommenden digitalisierten Form des Kapitalismus. Sie beleuchten Aspekte, die von Linken kaum aufgegriffen werden. Sie kranken allerdings an den Scheuklappen des konservativen beziehungsweise liberalen Denkens, die notwendige Bedingung des Weltbildes ihrer Autoren sind. Williams sieht die Manipulationsinfrastrukturen des Digitalen Kapitalismus als Angriff auf die mündige Staatsbürgerin, die er nach den Idealen klassischer Philosophie entwirft. Dass diese Idee der Staatsbürgerin weitestgehend eine Fiktion ist, die sich auch unter den Bedingungen des vordigitalen Kapitalismus kaum je realisieren konnte, sieht er nicht. Zuboff wiederum setzt alle ihre Hoffnungen auf den Staat, der doch bitte den neuen, schlechten Überwachungskapitalismus durch Gesetzgebung einhegen möge. Was genau die Alternative ist, wird nicht ausbuchstabiert. Da sie aber fast hundert Seiten auf den Beweis der moralischen Überlegenheit der fordistischen Produktionsweise verwendet, wird es wohl eine Art historische Fixierung des Fordismus sein. Das der Staat zwar die Bedingungen für den Erhalt der kapitalistischen Produktionsweise garantiert, dass aber noch lange nicht bedeutet, dass Staaten über die Entwicklung des Kapitalismus beliebig verfügen können, kommt bei ihr nicht vor. So eint die Kritik beider Autoren ein eher simples Narrativ: Vorher war es gut, doch die Digitalisierung macht es schlecht. Mit Kritikern wie Staab lässt sich eine analytische Position einnehmen, die nicht jede Ungerechtigkeit des Digitalen Kapitalismus aus der Digitalisierung heraus erklären muss, weil sie sich der Kontinuitäten des Kapitalismus bewusst ist. Dabei besteht allerdings wiederum die Gefahr, im Verweis auf die grundsätzliche Kontinuität das umwälzende Potenzial des Neuen zu übersehen. Der Übergang von einem im eigentlichen Sinne marktwirtschaftlichen Modell hin zum Versuch einer Art an Produzenteninteressen orientierten, über Datenextraktion regulierten Steuerung des gesellschaftlichen Konsums wäre eine gewaltige Veränderung, auch wenn das eben kein neues datenbasiertes Wertschöpfungsmodell wäre.26

Die Fluchtlinien des Digitalen Kapitalismus lassen sich verlängern zu einer ökonomischen Formation, die vielleicht nicht vollständig realisierbar ist, aber dennoch als implizites Ideal und emergierendes Telos der Digitalisierung beschreibbar ist und dabei hilft, ihre Effekte einzuordnen. Es ist ein Wandel der Distributionsseite der kapitalistischen Ökonomie von einer marktförmigen Organisation hin zu einem zentral steuerbaren und planbaren Konsum, der die Abnahme der (Über)Produktion möglichst garantiert.27 Der Konsum dient im Endzweck nicht der Bedürfnisbefriedigung und dem Lebenserhalt der Konsumentin. Das sind nur Nebeneffekte des eigentlichen Zwecks: die produzierten Waren abzusetzen, sie in Geldkapital zu verwandeln, welches erneut den Akkumulationsprozess durchlaufen kann. An dieser Stelle wird die sehr begrenzte Autonomie der Konsumentin zum Problem, denn diese birgt immer das Risiko, dass sie ihre vorgesehene Rolle nicht korrekt erfüllt. Darüber hinaus bleibt für die einzelnen Unternehmen das Problem der Konkurrenz: die Kundin muss dazu gebracht werden, die eigenen Produkte zu konsumieren, nicht die der Konkurrenz. Aber wo steht geschrieben, dass dieses Problem nicht einfach behoben werden kann?

Die neuen Giganten der Digitalisierung sind zur Dominanz gelangt mit dem Versprechen, das Problem der Unvorhersagbarkeit der Konsumentscheidungen zu lösen. Das Mittel dazu ist die Entwicklung proprietärer Märkte, die Kunden dauerhaft binden und ihr Verhalten über umfassende Datenerhebung vorhersagbar machen sollen. So soll die Komponente der Unvorhersagbarkeit ausgeschaltet werden, die die begrenzte Autonomie der Konsumentin so problematisch macht. Mit diesem Versprechen haben sie eine Möglichkeit gefunden, mit dem Internet doch noch zuverlässig Geld zu verdienen, in gigantischem Ausmaß. Ob sich dieses Versprechen wirklich realisieren lässt, oder ob es nicht doch stark von Ideologie geprägt ist, bleibt abzuwarten.

Die problematische Autonomie

Autonomie ist nicht etwas, das ein Subjekt qua Selbstsetzung hat, sie ist in ihrer Realisierung gesellschaftlich bedingt. Darüber hinaus muss die Autonomie der Subjekte als Prozesshaft begriffen werden. Völlig realisieren kann sie sich nur unter gesellschaftlichen Voraussetzungen wie denen, für die der Anarchismus eintritt. Unterschiedliche gesellschaftliche Formationen bieten unterschiedliche Potenziale ihrer Realisierung und wie diese schlussendlich ausfallen, ist stets umkämpft. Die Art, wie die Autonomie eines Subjektes eingeschränkt werden kann, lässt sich idealisiert in zwei Modi darstellen. Der erste Modus ist der der Herrschaft durch Gewalt: hierbei wird ein zu autonomer Setzung von Zielen fähiges Subjekt durch äußere Gewalt an der Realisierung ihrer Selbstzwecke gehindert. Der zweite Modus ist die Unterminierung der Kapazitäten zur Autonomie: hier wird in das Innere eines Subjektes eingegriffen, um die Kapazitäten zur autonomen Setzung von Zielen zu beschränken oder zu zerstören. In der Realität beinhaltet jede Situation von Herrschaft Anteile beider hier idealisiert dargestellten Modi, aber es ist vor allem der erste, augenfälligere, der als Herrschaft diskutiert und kritisiert wird. Gerade der Essay von James Williams macht deutlich, dass die neuaufkommenden Strukturen des Digitalen Kapitalismus Autonomie vor allem auf die zweite Weise einschränken. Dabei sollte man allerdings nicht den Fehler machen, diese eine, durch ihre Neuheit spektakuläre Einschränkung von Autonomie, für das ganze Problem zu nehmen. Denn das würde dazu verleiten, die Subjektform die hier transformiert werden soll, die der Konsumentin, zu idealisieren. Die beschränkte Autonomie der Konsumentin im postfordistischen Konsumkapitalismus ist eine, die sich in einer spezifischen Konstellation der beiden Modi von Herrschaft abspielt. Die Glorifizierung der Freiheit, zwischen verschiedenen Waren zu wählen, verstellt den Blick darauf, wie hier die zwei Modi von Herrschaft die Möglichkeit verstellen, sein Leben umfassend selbst zu gestalten. Dennoch ist es bemerkenswert, dass nun auch diese Entscheidungsmöglichkeit durch eine technologische Neuorganisation der zweiten Modus infrage gestellt wird. Das muss auch diejenigen interessieren, die noch nie bereit waren, sich auf diese Form von Autonomie beschränken zu lassen oder sie gar zu verteidigen.

Gewendet auf das Individuum bedeutet dies: Es gibt auch unter den Bedingungen der ersten und zweiten Gewalt Formen von Autonomie, die aus Sicht des Kapitals problematisch sind. Welche das sind, ist wiederum von der spezifischen historischen Situation abhängig und kann sich durchaus wandeln. Diese problematische Autonomie gilt es zu entdecken und zu stärken. Denn es besteht der begründete Verdacht, dass an den Stellen, an denen besonders intensiv an neuen Formen der Fremdbestimmung gebastelt wird, gerade frische Potenziale der Überwindung des falschen Ganzen überkleistert werden.

1SW0RDDOOM: Freedombone - DIY Soziale Veränderung in Zeiten des Überwachungskapitalismus, Vortrag, 36C3, 27.12.2019

2 Aktuell wird in mehreren Staaten gegen Facebook und Google nach Kartellrecht prozessiert. In den USA läuft ein Kartellprozess gegen Facebook, mit dem Ziel, die Konzernbestandteile Instagram und Whatsapp abzuspalten. Grundsätzlich unterlägen auch kleinere, in Konkurrenz agierende Unternehmen den selben ökonomischen Imperativen, die bei Facebook und Google die Förderung faschistischer Bewegungen bedingen. Ein weniger von Monopolen geprägter Markt könnte jedoch Möglichkeiten für Social Media Plattformen eröffnen, die genossenschaftlich organisiert sind, oder nach dem Modell der kommunalen Daseinsfürsorge finanziert werden.

3Vgl. Phillip Staab: Digitaler Kapitalismus, Berlin 2019

4Vgl. Timo Daum: Die künstliche Intelligenz des Kapitals, Hamburg 2019

5Vgl. Florian Butollo / Sabine Nuss (Hrsg.): Marx und die Roboter, Berlin 2019

6James Williams: Stand out of our Light, Cambridge 2018, S. 50

7Williams, Light. S. 55

8Williams, Light, S.68

9Die Bezeichnung für Verhaltensüberschuss lautet im englischen original Behavioural Surplus. Der Begriff ist erkennbar angelehnt an das Konzept des Surplus Labour, der Mehrarbeit bei Karl Marx. Diese Analogie der Signifikanten, die wohl auf eine Analogie der Signifikate verweisen soll, ist wohl bei der Übersetzung des Buches verloren gegangen.

10Shoshana Zuboff: Das Zeitalter Des Überwachungskapitalismus, Frankfurt am Main 2019, S. 102

11Timo Daum: Künstliche Intelligenz als vorerst letzte Maschine des digitalen Kapitals, in: Butollo/Nuss, Roboter S. 317f

12Daum: KI des Kapitals, S. 39

13Vgl. Karsten Uhl: Eine lange Geschichte der Menschenleeren Fabrik, in: Butollo/Nuss, Roboter, S.88

14Vgl. André Gorz: Wissen, Wert und Kapital, Zürich, 2004, S. 21

15Staab: Digitaler Kapitalismus, S.33f

16Vgl. André Gorz: Wissen Wert und Kapital, Zürich 2004, S. 39

17Vgl. Staab: Digitaler Kapitalismus, S. 82f

18Vgl. http://highscalability.com/google-architecture (abgerufen am 12.06.2020)

19Karl Marx: Das Kapital Band 1, Berlin 1977, S. 760

20Vgl. Staab: Digitaler Kapitalismus, S. 91

21Vgl. Zuboff: Überwachungskapitalismus, S. 373

22Die Bedeutung dieser Digitalen Lebenswelten habe ich bereits in Tsveyfl #1 untersucht.

23Zuboff: Überwachungskapitalismus, S. 120f

24Williams: Light, S. 91

25Vgl. Max F. J. Schnetker: Transhumanistische Mythologie, Münster 2019

26Vgl. Georg Jochum / Simon Schaupp: Die Steuerungswende, in: Butollo/Nuss, Roboter, S. 330

27Vgl. Jochum/Schaupp, Steuerungswende, in: Butollo/Nuss, Roboter, S. 328