Max Schnetker

Das Virus und die politische Ökologie


Es gibt aus guten Gründen Vorbehalte gegen die Verschränkung von Biologie und Gesellschaftsanalyse. Gerade rechtes Denken vermutet im Reich der Biologie das Ursprüngliche und Wahre, aus dem man dann Vorschriften ableitet, wie Gesellschaft zu sein hat, wer dazu gehört und wer zu beseitigen ist. Hier ist der Vorbehalt eine Brandmauer gegen die Barbarei. Von der Ideenwelt des Nationalsozialismus bis Sarrazin, Höcke und zeitgenössischen Sozialdarwinisten eint dieses Denken, dass es in die Biologie blickt und schon weiß, dass es dort die eigene Lust an der Vernichtung anderer begründet sehen will. Die Hoffnung, dieses Denken zu entlarven, indem man ihm nachweist, dass es die Biologie zwar scheinbar auf einen Thron erhebt, tatsächlich aber mit ihr beliebig verfährt und das gerade der biologische Teil der Argumentation inkonsistent und voller sachlicher Fehler ist, ist hilflos. Hilflos, weil der in diesen Argumentationen ausgedrückte Vernichtungswille sich von einem Nachweis ihrer Fehlerhaftigkeit nicht behelligen lassen wird. Hilflos, aber dennoch in der Sache korrekt.

Auch gegen Linke oder vermeintlich linke Versuche, Biologie und Gesellschaftskritik zu verschränken, lassen sich Vorbehalte anführen. Beispielsweise gegen die Versuche eines Lyssenko, die politischen Launen Stalins zu Gesetzen der belebten Natur zu verklären. Oder auch gegen heutige sich links wähnende Ökofaschisten, die sich globale Ökosysteme zu einer Übermutter halluzinieren, die von der Krankheit Mensch befallen ist und damit nur die sozialdarwinistischen Ideen eines Thomas Malthus reproduzieren.

Obwohl es diese triftigen Vorbehalte gegen die Verschränkung von Gesellschaftsanalyse und Biologie gibt, droht hier andererseits auch die Gefahr eines Erkenntnisverlusts. Denn die Trennung von Biologie und Gesellschaft ist eine Trennung des Blickes, Real sind die Menschen, die eine Gesellschaft bilden, selbstverständlich Lebewesen, die mit anderen Lebewesen in Systemen wechselseitiger Abhängigkeit existieren. In Zeiten in denen sich die kapitalistisch formierte Gesellschaft die ins Arbeitsgebiet der Biologie fallenden Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz abgräbt, birgt das Bestehen auf diesem Vorbehalt sogar die Gefahr, Entscheidendes zu übersehen.

„Erstaunlicherweise scheint das Establishment bereit zu sein, einen Großteil der weltweiten Produktivität aufs Spiel zu setzen, die katastrophal einbrechen wird, wenn zum Beispiel in Südchina eine tödliche Pandemie ausbricht - von Millionen Menschenleben einmal abgesehen.“

Dieser Satz stammt aus einem Text von Rob Wallace, der erstmals 2016 veröffentlicht wurde. Dass wir uns 4 Jahre später mitten in einer beispiellosen Wirtschaftskrise befinden, aufgrund einer ursprünglich in China ausgebrochenen Pandemie, die bisher weltweit über 800.000 Opfer gefordert hat, spricht dafür, dass Wallace etwas Entscheidendes bemerkt hat, das von anderen übersehen wurde.

Wallace ist Evolutionsbiologe und Phylogeograph und hat sich über 25 Jahre mit der Entstehung und Ausbreitung von Seuchen befasst. Was seine Arbeit auszeichnet, ist die Entwicklung einer Politischen Ökologie der Viren, die sich nicht nur mit den molekularen Eigenschaften eines bestimmten Serotyps beschäftigt, sondern auch mit den Bedingungen, die die Evolution neuer Viren und deren Verbreitung bestimmen. Diese Bedingungen sind aber schon lange keine Effekte der unberührten Natur mehr. Neue Virentypen stammen heute aus den Tiermastfabriken der industriellen Landwirtschaft oder aus immer intensiver genutzten und gleichzeitig schrumpfenden Waldgebieten. Sie finden ihre Verbreitungswege über globale Warenströme und prallen auf Bevölkerungsgruppen, denen aufgrund von wirtschaftspolitischen Entscheidungen die Gesundheitsversorgung vorenthalten wird. In einer vom Kapitalismus durchdrungenen Welt sind Seuchen schon lange keine reinen Naturkatastrophen mehr. Um diese Zusammenhänge zu verstehen sind Untersuchungen wie die von Wallace unverzichtbar. Was Wallace in seiner Untersuchung vormacht ist, dass es dabei darauf ankommt, weder die Gesellschaftskritik in der Biologie, noch die Biologie in der Gesellschaftskritik aufzuheben, sondern beide Blicke zu ihrem Recht kommen zu lassen. 

Matthias Martin Becker hat angesichts der Corona Pandemie eine deutsche Übersetzung der Analysen von Rob Wallace zusammengestellt. Durch seine editorische Arbeit werden die von Wallace an Verschiedenen stellen veröffentlichten Gedanken in einem fortlaufenden Zusammenhang verstehbar und auch für ein Laienpublikum zugänglich. 

Wer sich vom Vorbehalt gegen die Verknüpfung von Biologie und Gesellschaftsanalyse davon abhalten ließe dieses Buch zu lesen, würde entscheidendes Wissen über die Welt, in der wir heute leben, verpassen.

Rob Wallace, Was COVID-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobuisness zu tun hat, PapyRossa Verlag, 2020