Corona, Krise, Klassenkampf
Die Redaktion Tsveyfl zur aktuellen Lage


Das Thema Corona-Virus ist derzeit allgegenwärtig, sowohl in der medialen Berichterstattung, wie auch in den Leben der meisten Menschen. Es sind bereits viele – gute wie unsinnige – Stellungnahmen, Pamphlete und ähnliches von Anarchistinnen und Linken veröffentlicht worden, wir wollen nicht wiederholen, was schon zu oft gesagt wurde, sondern die derzeitigen Ereignisse einordnen und aufzeigen, welche politisch-ökonomischen Folgeerscheinungen sich ergeben können. Für ein grundsätzliches Verständnis davon, wie es überhaupt soweit kommen konnte, empfehlen wir den Text „Soziale Ansteckung – Mikrobiologischer Klassenkampf in China“ von Chuang (der dankenswerterweise von den Genossinnen der Wildcat übersetzt wurde), in dem der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Produktionsweise und Epidemien dargelegt wird.


Die aktuelle Situation

Zum jetzigen Zeitpunkt (19.03.2020) sind in Deutschland 10.999 Fälle von Coronavirus-Infektionen bekannt, 20 Personen sind bereits gestorben, in Österreich sind es 1843 Infektionen und fünf Tote. Die EU hat für 30 Tage die Einreise beschränkt, Deutschland und Österreich haben die Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen, Versammlungen sind untersagt, Veranstaltungen verboten, Schulen und Universitäten geschlossen, Geschäfte sind angehalten oder gezwungen zu schließen, der Flugverkehr wird eingeschränkt, die Bahn schraubt ihren Betrieb runter, der öffentliche Nahverkehr funktioniert derzeit noch, soll aber teilweise auch runtergefahren werden, Bayern hat den Notstand ausgerufen und die erste Ausgangssperre verhängt, Österreich hat eine landesweite Ausgangssperre verhängt – generell gelten die Maßnahmen der Kurz-Regierung durch das neu erlassene Corona-Gesetz zeitlich unbegrenzt. VW, Audi und Daimler haben die Produktion eingestellt.

Vielerorts sind durch die Zuspitzung der Lage Netzwerke der gegenseitigen Hilfe entstanden, Nachbarinnen organisieren sich um denen, die einer Risikogruppe angehören, auszuhelfen und/oder die Isolation erträglicher zu machen. Man kann dies sicher als eine positive Seite der derzeitigen Situation betrachten – Menschen üben sich in praktischer Solidarität, überwinden die Anonymität der Städte, kommen zusammen (wenn auch nicht unbedingt physisch), organisieren sich, schaffen Strukturen. Es ist allerdings keine Entwicklung, die nicht absehbar gewesen wäre. In Katastrophen entstehen immer wieder Netzwerke gegenseitiger Hilfe – ein bekanntes Beispiel sind sicher die spontan entstandenen Netzwerke nach dem Hurrikan Kathrina, aus denen auch das Common Ground Collective hervorging. Diese aus der Not geborenen Strukturen sollten jedoch keineswegs überbewertet werden. Sicher ist es gut, dass Menschen sich zusammenschließen, sich unterstützen und füreinander da sind, aber dies ist eben nicht als der Anfang von basisdemokratisch organisierten Gegenstrukturen zu sehen. In den meisten Fällen zerfallen diese Netzwerke wieder, wenn die Katastrophe weitestgehend überstanden ist oder sie institutionalisieren sich und funktionieren nach Prinzipien, die nicht im Widerspruch zu den staatlichen Strukturen stehen.
Dem gegenüber stehen Hamsterkäufe; das Horten von Produkten, die alle in ihrem täglichen Bedarf bräuchten, ist ein Anzeichen dafür, wie wenig Gedanken sich viele Menschen darüber machen, was mit anderen passiert. Grassierende Panik und fehlende Rücksichtnahme erzeugen die Knappheit an Gütern, der vorgebeugt werden soll.
Beide Verhaltensweisen sind Reaktionen darauf, dass sich in diesem Szenario alle auf Neuem Terrain befinden – wir sind es gewohnt, als Konsumentinnen adressiert zu werden, mit einer unüberschaubaren Menge an Waren und Auswahl zwischen diesen geradezu belästigt zu werden und unsere Ausbeutung durch die Ausbeutung anderer einigermaßen aushaltbar bis erträglich gestalten zu können. Im Lockdown fallen die meisten Dienstleistungen auf die viele von uns angewiesen sind, um ihre prekären Lebenssituationen einigermaßen organisieren zu können plötzlich weg. Ob dies zu konkreter Solidarität mit anderen denen es ebenso geht oder zu Panikkäufen führt ist kaum mehr als idiosynkratischer Zufall. Dazu kommt die sich ständig ändernde Nachrichtenlage: immer neue Beschlüsse, eilige Gesetzesänderungen und Regelungen, die einerseits den kapitalistischen Betrieb irgendwie am Laufen halten und andererseits die Menschen soweit wie möglich voneinander isolieren sollen. Wie sehr eine letzteres in Panik versetzt ist eine Frage des individuellen sozio-ökonomischen Standpunkts und damit verbundenen Spielraums.

Was sich derzeit schon absehen lässt, ist, dass die Fallzahlen noch steigen werden und Notaufnahmen und Krankenhäuser in absehbarer Zeit überlastet sein werden. Der Großteil der Bevölkerung wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht all zu sehr unter dem Virus leiden, für einige (nicht nur) aus den Risikogruppen wird es aber tödlich enden. Die Gefahr, die für alle anderen entsteht ist vor allem, dass das Gesundheitssystem mit der Bekämpfung bzw. Behandlung von Corona derart beschäftigt sein wird, dass die Behandlung sämtlicher anderer Krankheiten oder Verletzungen zurückstehen wird. So kann auch der Rest in die unangenehme Situation kommen, dass viele Krankheiten, die sich eigentlich behandeln ließen, einen tödlichen Verlauf nehmen, einfach weil es nicht mehr genügend Kapazitäten für eine fachgerechte medizinische Versorgung gibt. Diese Entwicklung lässt sich jetzt bereits in Italien beobachten. Hier zeigen sich deutlich die Auswirkungen neoliberaler Gesundheitspolitik für die auch Gesundheitseinrichtungen nach der Logik der Profitmaximierung zu funktionieren haben: schon ohne Pandemie sind die Personaldecken so dünn, dass eine angemessene Versorgung der Patientinnen kaum sicher gestellt werden kann, die Bezahlung in den Sozial- und Pflegeberufen ist unterirdisch und durch die Grenzschließungen fehlen in Deutschland und Österreich schon jetzt viele der Pflegekräfte aus osteuropäischen Ländern auf die ein so gestaltetes System angewiesen ist.


Krise und Klassenkampf von oben

Durch social distancing, Händewaschen und weitreichende Vorsichtsmaßnahmen dazu beizutragen dieses System nicht über Gebühr zu belasten und die Versorgung aller, die Pflege und medizinischer Hilfe bedürfen sicher zu stellen ist zweifelsfrei das richtige Ziel, die Mittel lassen aber ahnen, welche Methoden allgemein Einzug finden können, denn die Ausgangssperre wird zum Beispiel in Frankreich mit hunderttausenden Polizeikräften durchgesetzt, in Spanien werden die Menschen mittels Drohnen angehalten zu Hause zu bleiben. Was unter gesundheitlichen Gesichtspunkten heute eine Notwendigkeit darstellen mag, kann auch die Probe für morgen sein, wenn die Arbeiterinnen ungemütlich werden. Wie weit lassen sich deren Rechte einschränken, welche Abstriche sind diese bereit zu machen um auch das prekärste Ausbeutungsverhältnis nicht zu gefährden, was ist wirklich kritische Infrastruktur, wer ist notwendig um diese zu bedienen? Es wäre dumm anzunehmen, dass die herrschende Klasse aus den Erfahrungen die sie im Managen der Krise macht, keine Schlüsse für die Unterdrückung der Massen ziehen würde.
So sehr das Kapital unter der aktuellen Situation leidet – der Zusammenhang zwischen konkreter Arbeit und vermeintlich selbstverwertendem Wert wurde selten so exemplarisch veranschaulicht wie durch die Börsenkurse der letzten Tage –, es leidet nicht an der Einschränkung der bürgerlichen Freiheit der Einzelnen, sondern daran, deren Mehrarbeit nicht aneignen zu können.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Willfährigkeit, mit der Unternehmen der Entrechtung der Bürgerinnen zuarbeiten.
Der österreichische Telefon- und Internetanbieter A1 hat in vorauseilendem Gehorsam Daten zur Erstellung von Bewegungsprofilen an die Regierung geliefert, damit diese Kontaktketten von (potentiell) Infizierten erstellen kann. Dies ist nicht nur aus datenschutzrechtlicher Perspektive ein Skandal, sondern auch zum Zeitpunkt der Umsetzung vollkommen nutzlos: die Verbreitung des Virus ist längst so weit vorangeschritten, dass sich aus der Rekonstruktion von Kontaktketten keine relevanten Informationen mehr ergeben. Ginge es darum gezielt Personen, die das Virus übertragen könnten zu identifizieren und gegebenenfalls zu isolieren hälfe nur eins: flächendeckende Test. Aber die gibt es nicht, denn Europa und die USA waren zu beschäftigt damit, das Virus als chinesisches Problem zu verstehen um präventiv Ressourcen für so etwas belangloses wie eine funktionierende medizinische (Test-)Infrastruktur aufzuwenden. Inzwischen hat die Telekom nachgezogen und liefert ebenfalls Daten zur Überwachung, mit dem Unterschied, dass hier keine Kontaktketten nachgezeichnet werden sollen, sondern überwacht werden soll, ob sich die Bevölkerung der Empfehlung entsprechend überwiegend zu Hause aufhält.
Im Zuge dieser ohnmächtigen Reaktionen ist unklar, wie lange die Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufrechterhalten werden (müssen). Die wirtschaftliche Krise wird die Basis für den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen in vielen Branchen jedenfalls auf lange Sicht weiter schwächen, zahlreiche Lohnabhängige werden sich aus Mangel an Alternativen mit noch prekäreren Bedingungen ihrer Ausbeutung zufrieden geben als zuvor und noch mehr werden ganz ohne Ausbeutungsverhältnis dastehen. Diese Ängste und vermeintliche Alternativlosigkeit macht Menschen gefügiger für autoritäre Lösungen, sie geben ihre Freiheiten willentlich auf, ob sie diese nach der Krise wieder einfordern bleibt fraglich. Wir werden sicher nicht in ein paar Monaten aufwachen und in einer Diktatur oder einem autoritärem Regime leben, aber der Weg dorthin wird ein bisschen leichter. Der Ruf nach dem Souverän, nach dem starken Staat, wird jedenfalls lauter. Er erzielt Erfolge im Kampf gegen die Epidemie, warum nicht auch in der Klimakrise? Oder im Kampf gegen Geflüchtete? Egal welcher politischer Couleur sich eine zurechnen mag, links, rechts, liberal usw., die Neigung zu autoritären Lösungen wird wachsen. Ob und in welche Richtung dies eine Wende bringen könnte – ob in die vermeintlich grüne Ökodiktatur oder das faschistischen Regime oder eine sehr unangenehme Kombination aus beidem – bleibt dabei vollkommen offen. Weil sie nicht mehr zur Arbeit gehen können verlieren bereits jetzt massenhaft Menschen zeitweise oder langfristig ihr Einkommen. Die Regierungen in Deutschland und Österreich versuchen dem mit Kurzarbeitspaketen entgegenzuwirken, Spanien hat ein Rettungspaket von rund 200 Mrd. €, die USA eins über 850 Mrd. € angekündigt.

Die Gewerkschaften weisen hier wie dort darauf hin, keine Aufhebungsverträge zu unterschreiben und versuchen über die arbeitsrechtliche Situation aufzuklären, aber so oder so werden viele in prekären Beschäftigungsverhältnisse unter der derzeitigen Situation zu leiden haben. Ganz zu schweigen von den Überflüssigen, die schon lange nur noch dafür gut sind eine Sozial-Ökonomie am Laufen zu halten, mit der sich der Staat ein menschliches Antlitz verleiht. Die Tafeln haben den Betrieb bereits eingestellt und ambulante Einrichtungen für Obdachlose, psychisch Kranke, Drogenabhängige usw. sind noch überlasteter als gewöhnlich, werden teils schon geschlossen oder sind von einer baldigen Schließung bedroht – offensichtlich sind sie es nicht wert als Risikogruppe zu gelten. Wer auf der Straße unter schlechtesten hygienischen Bedingungen lebt und dann evtl. auch noch unsauberes Spritzbesteck benutzen muss, ist eben selbst schuld.
Weder die unsichtbare Hand des Marktes noch die sichtbare Hand des Staates scheint die Situation wirklich zu fassen zu kriegen und beide besinnen sich auf das, was sie am besten können: der Markt will seinen Zugriff auf die Einzelne als Arbeiterin optimieren und die Mehrwertrate erhöhen, der Staat seine Zugriffsrechte auf die Einzelne als Bürgerin erweitern.
Mögliche Folgen der Epidemie sind also eine Verarmung weiter Teile der prekär Beschäftigten, eine noch weiter voranschreitende Verelendung der Überflüssigen und eine Aufrüstung des Sicherheitsapparates bzw. ein ausgeklügeltes Krisenmanagement, das sich flexibel – also auch zur Aufstandsbekämpfung – einsetzen lässt. Eben dieses Krisenmanagement zeigt auch jetzt schon deutlich die Züge eines Klassenkampfes von oben, weil es vor allem jene schützt, die ökonomisch abgesichert sind.

Die Krise nach der Krise

So schafft der Umgang mit dem Virus neue ökonomische und politische Grundlagen für folgende Krisen, die potentiell in einem Aufstand der Armen, Ausgestoßenen und Überflüssigen münden könnten. Man muss sich hierzulande nichts vormachen, es wird nicht dazu kommen – und es wäre auch nicht in jedem Fall wünschenswert, weil Hunger, Angst und Wut, die einen solchen Aufstand motivieren könnten, eben kein politisches Programm sind, sondern nur Bedürfnisse spiegeln, die auf verschiedenste – im Zweifelsfall autoritäre, völkische – Weise befriedigt werden können.
In anderen Ländern könnte es freilich anders kommen. In Griechenland ist die konservative Regierung ohnehin gewillt autoritär und gewalttätig gegen libertäre Projekte vorzugehen. Werden dort die bürgerlichen Freiheiten noch weiter eingeschränkt, scheint es nicht all zu unwahrscheinlich, dass ein Ausnahmezustand auch über die aktuelle Krise hinaus bestehen bleiben könnte, um die Infrastruktur der anarchistischen Bewegung zu räumen und den Protest dagegen klein zu halten. Wenn man an den Anarchistinnen ein Exempel statuiert hat, sind die möglicherweise folgenden Proteste wegen der Verarmung durch die Corona-Krise eventuell kleiner und ebenfalls leichter einzudämmen.
Natürlich ist das reine Spekulation. Aber man sollte sich darauf einstellen, dass es unschön wird. Hier wie woanders. Dabei gibt es z.B. in Griechenland den Vorteil, dass tatsächlich eine anarchistische Bewegung existiert, die durch eine ökonomische Krise weiteren Aufwind bekommen und gesellschaftliche Gegenmacht aufbauen könnte, der das Potential gesellschaftlicher Veränderung innewohnt. In Deutschland steht nicht nur die anarchistische Szene, sondern die gesamte außerparlamentarische Linke weitestgehend unorganisiert und unstrukturiert dar. Wo Anarchismus mehr Lifestyle denn politische An- oder Einsichten bezeichnet ist keine Bewegung, keine Gegenmacht, absehbar. Möglich, dass es im Verlauf der kommenden ökonomisch-sozialen Krise zu ähnlichen Erscheinungen kommen wird, wie nach der Finanzkrise 2008; zu einem spontanen Anstieg anarchistisch orientierter Gruppen und zur verstärkten Organisierung der (prekär) Beschäftigten, die erkannt haben, dass sie sich auf den Staat genau so wenig verlassen können wie auf ihre Arbeitgeber. Es käme darauf an, aus diesen an Selbstorganisation orientierten Grüppchen tatsächlich gemeinsame Strukturen zu formen, die in der Lage sind gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen.

Das Proletariat besitzt keine andere Waffe im Kampf gegen die Macht als die Organisation.“
der unbekannte Theoretiker