révolutionaire" gehalten hat.
Maurice Schuhmann
Die Nietzsche-Rezeption von Gustav Landauer im Kontext des anarchistischen Diskurses (1890-1920)
Maurice Schuhmann
Die Nietzsche-Rezeption von Gustav Landauer im Kontext des anarchistischen Diskurses (1890-1920)
[Einleitung]
Seit
Beginn der 2000er Jahre erlebt die anarchistische Auseinandersetzung
mit der Philosophie Friedrich Nietzsches eine erneute Renaissance. Neben
der, zu dieser Zeit beginnenden postanarchistischen Auseinandersetzung
mit seiner Philosophie, die vor allem mit dem Namen Lewis Call (Postmodern Anarchism)
verbunden ist, sind u.a. eine Reihe von Studien über die Rezeption
Nietzsches im klassischen Anarchismus bzw. Anknüpfungspunkte Nietzsches
für einen anarchistischen Diskurs erschienen. Die wichtigsten
Publikationen der letzten 15 Jahre sind:
John Moore: I Am Not A Man, I Am Dynamite!: Friedrich Nietzsche and the Anarchist Tradition: Friedrich Nietzsche and the Anarchist Tradition (2004)
Spencer Sunshine: Nietzsche and the Anarchists (2005)
Maurice Schuhmann: Ret Maruts Begriff von der Menschheit im Kontext seiner Stirner- und Nietzsche-Rezeption (2010)
Christos Iliopoulos: Nietzsche & Anarchism (2013)
Max Leroy: Dionysos au drapeau noir (2014)
Dominique Miething: Anarchistische Deutungen der Philosophie Friedrich Nietzsches (2016)
Shahin: Nietzsche and Anarchy (2016)
Innerhalb
des anarchistischen Spektrums nimmt der deutsch-jüdische Anarchist
Gustav Landauer (1870-1919) ein. Seine Philosophie und sein gesamtes
Denken ist stark von Nietzsche geprägt. Gleichzeitig ist er einer der
ersten, anarchistischen Rezipienten Nietzsches und es kommen in seinem Werk die unterschiedlichen Facetten der anarchistischen Rezeption zum Tragen.
Die Bezugspunkte im Werk Landauers sind zahlreich – sei es im Titel seines Romans Der
Todesprediger, einer Anspielung auf ein Kapitel im Zarathustra, in der Verwendung des Begriffs
„Antipolitiker“ seit 1897, was auf eine Passage in einer Vorarbeit zum Ecce Homo
verweist („ich, der letzte antipolitische Deutsche“, KSA, 14, S. 472)
oder in den zahlreichen, namentlichen Erwähnungen in seinenTexten und
Briefen – neben dem an Nietzsche erinnernden Selbstbild als Dichter-Philosoph.
Seit
spätestens den 70er Jahren entstehen viele Untersuchungen über die
Nietzsche-Rezeption Landauers. Die wesentlichen Arbeiten hierzu sind:
Luc Lamberechts: Die schöpferische Prosa Gustav Landauers (1970)
Eugene Lunn: Prophet of Community (1973)
Walter Fähnders: Anarchismus und Literatur (1978)
Christine Holste: Nietzsche vu par Gustav Landauer (1991)
Hannah Delf von Wolzogen: „Allseitig, nicht einseitig sein“ / „Nietzsche ist für uns Europäer...“ (1992)
Corinna Kaiser: Gustav Landauer als Schriftsteller. Sprache, schweigen, Musik (2014)
Dominique Miething: Anarchistische Deutungen der Philosophie Friedrich Nietzsches (2016)
Diese
Studien beleuchten jeweils nur Teilaspekte der Nietzsche-Rezeption
Landauers – und auch der vorliegende Text erhebt nicht den Anspruch, die
vollständige Rezeptionsgeschichte nachzuzeichnen. Der Fokus im hiesigen
Text ist vielmehr auf die Zeit zwischen 1890 und 1900, d.h. die Zeit
gerichtet, die allgemein als die erste Welle der Nietzsche-Rezeption in
Deutschland gilt. Diese werde ich im weiteren Verlauf mit
Rezeptionslinien anderer deutschsprachiger Anarchisten[1] abgleichen, um die Überschneidungen und Besonderheiten der Landauer‘schen Rezeption herauszuarbeiten.
[Literaturbasis und Operationalisierung]
Als Literaturbasis greife ich vorrangig auf folgende Texte Landauers zurück:
- Religiöse Erziehung (1891)
- Gerhart Hauptmann (1891/92)
- Ein kleiner Beitrag zur Entwicklungsgeschichte Friedrich Nietzsches (1893)
- Friedrich Engels und die materialistische Geschichtsauffassung (1895)
- Friedrich Nietzsche und das neue Volk (1900)
- Vor fünfundzwanzig Jahren (1913)
- Friedrich Hölderlin in seinen Gedichten (1916)
Die
beiden letztgenannten Texte werden einbezogenen, weil sie einerseits
eine autobiographische Darstellung Landauers zeigt, in der sich dieser
auch zu seiner Nietzsche-Rezeption äußert, anderseits eine späte
Rezeption Nietzsches zeigen läßt.
Ich werde diese in Bezug auf die folgenden vier Aspekte hin darstellen:
Anhand dieser Texte möchte ich vier Aspekte von Landauers Nietzsche-Rezeption herausarbeiten.
1. Die Faszination für die Sprache Nietzsches.
2. Die im Rahmen der Nietzsche-Lektüre vollzogene Loslösung vom marxistischen Sozialismus.
3.
Die „anarchistische“ Deutung Nietzsches als Befreier, d.h. die
Verbindung von Nietzscheanischen Individualismus und
sozialrevolutionären Gedankengut.
4. Die Verbindung von Stirner und Nietzsche bzw. die Differenzierung beider Denker.
[Die Entwicklung von Landauers Nietzsche-Rezeption]
Nach
Eugene Lunn steht bei Gustav Landauer der Übergang vom Jugendlichen zum
anarchistischen Aktivisten im Zusammenhang mit seiner
Nietzsche-Lektüre. Diese erfolgte wahrscheinlich um 1890/91 in
Strassburg, wo er zu jener Zeit Philosophie studiert. Nietzsche ist
dabei ein stetiger Begleiter für ihn, wie sich in seinen Briefen zeigt.
In jene Phase fällt einzelnen Forschern auch der Beginn der
Schreibtätigkeit an dem Roman Der Todesprediger, der 1893
erstmals publiziert wird – und als einer der ersten, wenn nicht gar der
erste Nietzsche-Roman schlechthin, gilt. Er steht allerdings im Schatten
von Werken der Weltliteratur wie Dr. Faustus (1947) von Thomas Mann – und kann literarisch dem Mann‘schen Werk auch nicht das Wasser reichen.
In seinem biographischen Text Vor 25 Jahren schreibt Landauer reflektierend über seine erste Nietzsche-Lektüre:
„Manches
darin [Zarathustra] berührte mich wohl hauptsächlich so innig und stark
durch die Erschütterung des Dichters über sein geistiges Erleben, ich
lebte schon lange in den Philosophen und hatte schon als Gymnasiast
Schopenhauer und Spinoza gelesen, nun begegnete mir einer, in dem das
Denken sich rein und klar über gärend dumpfes Gefühl erhoben hatte,
sondern Denken und Gefühl so miteinander verbunden waren, dass alle
Liebessehnsucht und Insbrunst wie einer Geliebten der Idee gewidmet
schienen.“ (Landauer, Jahren, S. 91f).
Hanna Delf erklärt in ‚Allseitig, nicht einseitig sein‘ damit konform gehend und ausdifferenzierend:
„Der
Einfluß Nietzsches auf den jungen Landauer ist beträchtlich; seine
Sprache, sein Weltbild, sein gesamtes Lebensgefühl ist nietzscheanisch
gefärbt“ (Delf, Allseitig, S. 264).
(1) Die erste öffentliche Äußerung zu Nietzsche findet sich in seinem Beitrag Religiöse Erziehung,
der in der „Freie[n] Bühne für modernes Leben“ erschien und auf einem
zuvor gehaltenen Vortrag beruht. Hier findet sich allerdings lediglich
eine kurze Bezugnahme auf Nietzsches Zarathustra. Es ist unter dem Aspekt von großem Interesse, weil er in jener Zeit im Friedrichshagener Dichterkreis bewegt.
[Exkurs: Friedrichshagener Dichterkreis & sozialdemokratische Nietzsche-Rezeption]
Einerseits
ist im Friedrichshagener Dichterkreis, in dem Landauer ab 1891
verkehrt, bereits sehr früh eine Nietzsche-Rezeption vorhanden, die –
wie es damals üblich war – häufig mit dem Denken Max Stirners gekoppelt
wurde. (Die beiden Denker wurden häufig symbiotisch rezipiert – u.a.
gestützt auf Eduard Hartmanns These, dass es sich beim Werk Nietzsches
lediglich um ein Plagiat Stirners handele.[2])
Zu nennen sind in diesem Kontext die Gebrüder Julius (1855-1930) und
Heinrich Hart (1844-1906) oder Bruno Wille (1860-1928). Bereits in den
70er Jahren bestand Kontakt zwischen Julius Hart und Nietzsche und ab
den 1890er Jahren häufen sich die Erzeugnisse einer Nietzsche-Rezeption
in jenem Kreis. Im Friedrichshagener Dichterkreis wurde der Versuch
unternommen, Nietzsches Aristokratismus mit sozialrevolutionären
Vorstellungen zu verbinden.
Andererseits
muss Landauers Nietzsche Rezeption auch nur im sozialdemokratischen
Diskurs verstanden werden. Nietzsche bildete – laut des Sozialdemokraten
Kurst Eisner – eine wichtige, geistige Ressource für die Formation der
„Jungen“ als Opposition innerhalb der Sozialdemokratie.[3]
„Der
Einfluß Nietzsche‘s hat nicht nur eine Anzahl litterarischer Anhänger
der Sozialdemokratie dieser Fahne abwendig und zu poetischen Anarchisten
gemacht, er hat auch, sofern ich recht vermute, jene eigenartige Gruppe
der ‚Jungen‘ geschaffen, die unter der Führung Bruno Willes den Zorn
und die Macht Bebels unlängst zu kosten hatten.“ (Eisner, Psychopathia, S. 87).
Die
führenden Köpfe jener Opposition innerhalb der SPD waren gleichzeitig
bekannte Protagonisten des Friedrichshagener Dichterkreises.
(2)
In der „Neue[n] Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens“
publiziert Landauer einen Beitrag über Gerhart Hauptmann. In diesem
Rahmen äußert er sich erneut zu Nietzsche, indem er schreibt, dass sich
die Erkenntnis durchsetzte, dass der:
„Sozialismus
und die Bewunderung für Nietzsche sich sehr wohl vereinen ließ, dass
der Poet und Prophet Nietzsche das in den üppigsten, brennendsten Farben
erträumt hat, was der Sozialismus zur Wirklichkeit machen will.“
(Nietzsche, Gerhart, S. 97).
Hier
zeigt sich wiederum die im Kreis der Jungen bzw. im Friedrichshainer
Dichterkreis ebenso praktizierte Versöhnung von Nietzsche und
Sozialismus.
(3) Im Jahr 1893 erscheint Landauers Roman Der Todesprediger - inspiriert von einem Kapitel aus Nietzsches Zarathustra.
Der Literaturkritiker Otto Flake bemerkt diesbezüglich: „Ein kleiner
Zarathustra steckt in dem jungen Landauer und ist kein sieghafter
gewesen.“ (Flake, Bücher, S. 718f). Ähnlich wie bei Nietzsche ist
dieser Text auch als eine Loslösung von Arthur Schopenhauer lesbar, den
er mit seiner Nietzsche-Lektüre überwindet. Relevanter als dies ist
jedoch für die hiesige Darstellung die Auseinandersetzung mit Marx und
dem marxistisch-geprägten Sozialismus, die sich in jenem Nietzscheroman
findet. Im Todesprediger erwähnt er Karl Marx und die anfängliche Begeisterung für dessen Lehren (vgl. Landauer, Todesprediger,
S. 55). Die Überwindung dieser, die er poetisch mit dem Bild des neuen
Menschen beschreibt, der in ihm emporgekommen ist, klingt ebenso sehr
nietzscheanisch. Nach Lunn ist Der Todesprediger eine Antizipation der Aussage aus dem Aufruf zum Sozialismus - „Marxismus [...] ist: die Pest unserer Zeit und der Fluch der sozialistischen Bewegung!“ (Lunn, Prophet, S. 40).
Ein zweiter Aspekt ist, dass hier – wie auch in seinen Briefen – eine Imitation von Nietzsches Stil stattfindet. Luc Lamberechts erläuterte in seinem Aufsatz Die schöpferische Prosa Gustav Landauers:
„Die ausdrückliche Würdigung der Sprache Nietzsches, die hier
stattfindet, wäre kaum mehr als eine unmotivierte Literaturstelle, wenn
diese Sätze nicht gerade das nachzuahmende Vorbild Landauers in fast
störender Überdeutlichkeit enthüllten: das Satzgefüge der Sprache
Starkbloms, zur Charakterisierung in direkter Rede einschaltet, erinnert
sofort an das Sprachgebilde des Also sprach Zarathustra, nur dass sich Landauer der Überspitzung nicht scheut“ (Lamberechts, Prosa, S. 222).
Hier ein Beispiel aus dem Todesprediger – aus dem ersten Sendschreiben von Karl Starkblom:
„Ich
liebe den großen Tod, ich will Gefährten und darum predige ich den Tod,
weil das meinem Leben noch Reiz verleiht bis zum Ende. Aber ich werde
sterben, meine Freunde, verlasst euch darauf, ich werde sterben. Und ist
die einzige Zukunft, die ich noch anerkenne, und diese Zukunft , ja die
soll zusammenfallen mit meinem Willen.“ (Landauer, Todesprediger, S. 90f.).
(4) Im gleichen Jahr erschien Ein kleiner Beitrag zur Entwicklungsgeschichte Friedrich Nietzsches. Es
handelt sich um eine Auseinandersetzung mit einer Rezension Eduard
Bernsteins zu einem Buch von Wilhelm Weigand über Friedrich Nietzsche
(Wilhelm Weigand, Friedrich Nietzsche. Ein psychologischer Versuch).
Er nimmt eine Bemerkung Bernsteins zum Anlass sich sehr fundiert über
die Einflüsse auf Nietzsches Denken zu äußern – und thematisiert in
diesem Kontext auch explizit Max Stirner. In der Auseinandersetzung mit
der Rezension Bernsteins zeigt sich wieder die Bedeutung des
sozialdemokratischen Diskurses für die Landauer‘sche Auseinandersetzung
mit Nietzsche. Sehr fundiert widerspricht er, einer grundlegenden These
jener Rezension bezüglich der Psychologie des Schriftstellers (vgl.
Landauer, Beitrag, S. 115), wobei er seine guten Kenntnissen der
Materie unter Beweis stellt und dabei gleichzeitig die ihm wichtigen
Aspekte Nietzsches zum Ausdruck bringt wie z.B. den Themenkomplex
Individualität.
In seinem, als Reaktion auf einen Beitrag von Bernstein verfassten Text Ein kleiner Beitrag zur Entwicklungsgeschichte Friedrich Nietzsches, zeigt er die Differenzen im Individualismus zwischen dem Denken Max Stirners und Friedrich Nietzsches auf.
„Die
beiden haben auch in der Tat viel weniger gemein, als man häufig
annimmt. Stirner geht immer vom Modernsten aus, Nietzsche fast immer vom
Uralten. Auch der Individualismus der beiden ist sehr verschiedenartig.“ (Landauer, Beitrag, S. 118).
(5) In seinem Nachruf auf Friedrich Engels (1895) – Friedrich Engels und die materialistische Geschichtsauffassung
– greift er in seiner Kritik am historischen Materialismus auf
Friedrich Nietzsche zurück. Auch hier wird mit Nietzsche gegen den
marxistisch-geprägten Sozialismus argumentiert. Hierin greift Landauer
auf eine Anti-Hegel-Tirade aus Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben zurück, um die materialistische Geschichtsauffassung zu kritisieren.
„Es
ist bekannt, dass die materialistische Geschichtsauffassung nur eine
Modifizierung der Hegelschen Philosophie ist, und für die Lehre von Marx
und Engels und die Politik ihrer Jünger gelten auch die Worte, die
Friedrich Nietzsche in seiner trefflichen Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben gegen Hegel spricht und die ich zum Schluß hier anführen will [….]“ (Landauer, Friedrich Engels, S. 179).
(6) Im Jahr 1900 erscheint in einer dänischen Zeitschrift der sehr enthusiastische Beitrag Friedrich Nietzsche und das neue Volk. Auf Basis dessen er im darauffolgenden Jahr einen Vortrag hielt. Landauer würdigt Nietzsche darin mit den Worten:
„Er
[Nietzsche] ist vielmehr die grandiose Gestalt, die als Ausdruck für
unsere ganze Generation, für all unsere Größe, all unseren Schmerz, all
unser Glück, all unsere Einsamkeit und all unsere Hoffnungen, hoch über
der Armut und Dürftigkeit des Alltags beachtet.“ (Landauer, Friedrich Nietzsche, S. 167).
Er
vergleicht Nietzsche dabei mit anderen großen Denkern – vorrangig mit
Gotthold Ephraim Lessing – und stellt ihn auch in eine Tradition mit Max
Stirner.
Nietzsche
ist aber auch im Sinne Landauers ein Autor, den es weiterzudenken gilt.
Dies läßt sich vielleicht auch im Rahmen seiner „Kritik“ an ihm in Friedrich Nietzsche und das neue Volk erkennen. Ebenso läßt sich dies in seinen Novellen erkennen (vgl. Lamberechts, Prosa, S. 233).
„Wie
aber, möchte ich fragen, wenn die Sklaven sich diese vornehme
‚Herrenmoral‘ zu eigen machen? Wenn die Sklaven anfangen, alles zu
ehren, was sie in sich selbst fühlen, nur nicht den Zustand, in dem sie
sich gegen ihren Willen befinden, wenn in ihnen das Bewusstsein der
Fülle, der Macht, des Glücks in reicherem Maße erwacht Wenn auch die
Sklaven anfangen, hart zu werden, wenn sie lernen, Achtung vor sich
selbst zu begehren? Wenn die Sklaven vornehmer werden, wenn sie
es satt sind, die guten Dummen zu sein? Und könnte es nicht dahin
kommen, dass eine solche Zeit eintritt, dass eine gewisse
fortgeschrittene Technik gebildete und geschulte Sklaven braucht und
dass gerade dadurch ein Sklavenaufstand entsteht, von Sklaven, in denen
das Herrenbewußtsein lebt?“ (Landauer, Nietzsche, S. 171).
In späteren Jahren ist seine Rezeption Nietzsches deutlich geringer und kritischer. Dies zeigt sich z.B. in dem Text Friedrich Hölderlin in seinen Gedichten (1916). Eine Distanzierung von Nietzsche findet aber in keinem seiner Texte statt.
[Anarchistischer Nietzsche-Diskurs]
Nietzsches
Denken war ab 1900 und auch unmittelbar nach dem I. Weltkrieg im
besonders starken Maße im anarchistischen Diskurs präsent. Vor allem im
deutschsprachigen Raum bildete er eine wichtige Referenz, aber auch im
englischsprachigen Bereich – namentlich bei Emma Goldman war er eine
stetiger Weggefährte. Man würdigte ihn vor allem als Propagandisten des
Individualismus, als großen Zerstörer, Umwerter der alten Werte, was mit
einem Akt der Befreiung gleichgesetzt wurde, als auch für seinen
Atheismus bzw. radikalen Antitheismus.
Beispielhaft
für die unterschiedlichen Adoptionen seines Denkens und auch
(sprachlichen) Stils möchte ich kurz und knapp die Rezeption Nietzsches
von Ret Marut / B. Traven, Erich
Mühsam, Theodor Plivier und Rudolf Rocker thematisieren. Sie dienen mir
als Kontrastfolie, um die Spezifika der Landauer‘schen Rezeption
herauszuarbeiten. Des Weiteren sind es teilweise Weggefährten und
Freunde Landauers, die ich hier als Referenzen benutze. Landauer als
zentrale Figur der anarchistischen Nietzsche-Rezeption zu betrachten
bietet sich an, da in ihm die unterschiedlichen Stränge zusammenlaufen.
Zur Einordnung Nietzsches im anarchistischen Diskurs im deutschsprachigen Raum:
Jahr
|
Autor
|
Titel
|
Art
|
1. Welle
| |||
1891
|
Gustav Landauer
|
Religiöse Erziehung
|
Bezugnahme auf Nietzsche
|
1893
|
Gustav Landauer
|
Der Todesprediger
|
Von Friedrich Nietzsches Philosophie beeinflußter Roman
|
1896
|
Eduard von Hartmann
|
Sozialdemokratie und Anarchismus als Abspaltungen aus dem Liberalismus
| |
1897
|
Gustav Landauer
|
Nietzsche und Bakunin
|
Geplanter (?) Essay von Landauer
|
1898
|
John Henry Mackay
|
Max Stirner. Sein Leben und sein Werk
|
Die Biographie enthält einige Ausfälle gegen die Nietzsche-Rezeption seiner Zeitgenossen.
|
1900
|
Rudolf Steiner[4]
|
Friedrich Nietzsche
|
Gedenkrede bei der Versammlung der „Kommenden“
|
1901
|
Gustav Landauer
|
Friedrich Nietzsche und die neue Gemeinschaft
|
Vortrag
|
1901
|
Gustav Landauer
|
Friedrich Nietzsche und das neue Volk
|
Vortrag – basierend auf einem Artikel
|
1902-1904
|
Erich Mühsam
|
Der arme Teufel
|
Mehrere Gedichte im Stile Nietzsches
|
1904
|
Erich Mühsam
|
Krater
|
Von Friedrich Nietzsche beeinflußte Gedichtsammlung
|
1904
|
Gustav Landauer
|
Probleme der Moral: Beyle, Stirner, Dostojewski, Nietzsche
|
Vortrag
|
1906
|
Erich Mühsam
|
Friedrich Nietzsche
| |
1906
|
Anselm Ruest
|
Max Stirner. Leben, Weltanschauung, Vermächtnis
| |
1908
|
Jacques Mesnil
|
Stirner, Nietzsche und der Anarchismus
|
Artikelreihe in Der freie Arbeiter
|
1910
|
Friedrich Nietzsche
(übersetzt von Rudolf Rocker)
|
Also sprach Zarathustra
|
Jiddische Übersetzung
|
2. Welle
| |||
1911
|
Salomon Friedländer (Mynona)
|
Freier der Wahrheit
|
Erschien in „Die Aktion“ von Franz Pfemfert
|
1913
|
Otto Gross
|
Zur Überwindung der kulturellen Krise
| |
1917-1921
|
Ret Marut
|
Der Ziegelbrenner
|
Anarchistisches, von Nietzsche beeinflußte Zeitschrift
|
1919
|
Theodor Plivier
|
Anarchie
|
Revolutionärer Aufruf – stark inspiriert von F. Nietzsche
|
1919
|
Rudolf Rocker
|
Sozialdemokratie und Anarchismus
|
Einzelne Autoren sehen in dem Beitrag nietzscheanische Bezugspunkte bei Rockers Argumentation
|
1920
|
Ret Marut
|
Khundar
|
Erscheint in Der Ziegelbrenner
|
3. Welle
| |||
1927
|
Oskar Maria Graf
|
Wir sind Gefangene!
| |
1929
|
Theodor Plivier
|
Des Kaisers Kulis
| |
1935
|
Fritz Brupbacher
|
60 Jahre Ketzer
|
Thematisiert die Bedeutung Nietzsches
|
1938
|
Rudolf Rocker
|
Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus
| |
1949
[ursprünglich war die Publikation für 1936 anvisiert]
|
Rudolf Rocker
|
Untergang des Abendlandes (NA: Nationalismus und Kultur)
|
Im ersten Kapitel bezieht sich Rocker auf Nietzsches Konzept vom „Willen zur Macht“
|
[Ret Marut / B. Traven]
Der
ominöse Autor Ret Marut (?-1969), der wie Landauer zeitweilig Mitglied
der Münchener Räterepublik war, steht während der Zeit der Herausgabe
seines individualanarchistischen Ziegelbrenners (1917-1921) unter
dem Einfluß von Max Stirner sowie partiell unter dem von Friedrich
Nietzsche, die beide bei ihm – wie häufig im damaligen Diskurs – eine
Symbiose eingehen. Der Nietzsche-Einfluß wird bei ihm einerseits beim
Requirieren auf den Begriff des Menschen deutlich (vgl. Schuhmann, Begriff) aber auch stilistisch in seinem „deutschen Märchen“ Khundar, welches 1920 als Ausgabe des Ziegelbrenners erscheint. Der Stil, den der Traven-Forscher Rolf Recknagel fälschlicherweise mit Stirner assoziiert (vgl. Recknagel, Nachwort, S. XIf.), ist deutlich von einer Zarathustra-Lektüre
geprägt. Zeilen wie „Und er redete im traum und sprach also: oh wie
lang ist der tag, und der mensch eilet, und er holet ihn doch nimmermehr
ein!“ (Marut, Khundar, S. 19) sprechen eine deutliche Sprache.
Alleine schon die Wendung „sprach also“ ist ein deutlicher Fingerzeig
auf Nietzsche. Es ist zudem symptomatisch, dass viele Leser*innen
Nietzsches versuchen, seinen Stil zu imitieren bzw. zu kopieren.
[Erich Mühsam]
Einen
zeitweilig großen Einfluß – vor allem in der ersten Dekade des 20.
Jahrhunderts – auf die Lyrik des deutsch-jüdischen Anarchisten Erich
Mühsam (1878-1934) übte Nietzsche aus. Seine 1904 publizierte
Gedichtsammlung Die Wüste bezieht sich vom Titel auf eine Passage aus Nietzsches Zarathustra. Die Passage, auf die er sich beruft, lautet: „Die Wüste wächst – weh dem,
der Wüsten birgt.“ (Nietzsche, Zarathustra, S. 380). Ebenso sind mehrere, in der von ihm publizierten Zeitschrift Der arme Teufel (1902-1904) deutlich von Nietzsche beeinflußt (vgl. z.B. Miething, Deutungen, S. 158f). Er verfasste auch 1906 einen Beitrag für über Nietzsche für H. Ewers Führer durch die moderne Literatur.
[Theodor Plivier]
In dem pathetischen Aufruf Anarchie! (1919), den der deutsche Schriftsteller Theodor Plivier (1892-1955) unter Eindruck der deutschen Revolution verfasst, baut auf dem Denken von Stirner und vor allem Nietzsches, den er zweimal namentlich erwähnt, auf. Diese Vermischung beider Denker ist bereits im Abschnitt über Ret Marut thematisiert worden und findet sich bei vielen anderen Autoren jener Epoche wieder. Sein autobiographisch-geprägter Roman Des Kaisers Kuli (1930) zeigt die zu jener Zeit vorherrschende Begeisterung für Nietzsche in den sozialistischen und anarchistischen Kreisen. Dies kommt auch in Oskar Maria Grafs autobiographischen Roman Wir sind Gefangene! (1927) zum Ausdruck.
[Rudolf Rocker]
In seiner Argumentation gegen die Sozialdemokratie – Sozialdemokratie und Anarchismus – greift der deutsche Anarcho-Syndikalist Rudolf Rocker (1873-1958) 1919 mutmaßlich auf nietzscheanisches Denkens zurück. In Nationalismus und Kultur
(1937) – greift Rocker auf das nietzscheanische Konzept vom „Willen zur
Macht“ zurück. Das Auftaktkapitel seines fulminanten Werkes trägt diese
Überschrift. Hier heißt es bereits zum Auftakt:
„Je
tiefer man den politischen Einflüssen in der Geschichte nachgeht, desto
mehr gelangt man zu der Überzeugung, daß der ‚Wille zur Macht‘ bisher
eine der stärksten Triebfedern in der Entwicklung menschlicher
Gesellschaften gewesen sind.“ (Rocker, Nationalismus, S. 15).
Im Text selber finden sich eine Reihe von weiteren Nietzsche-Bezügen. In seiner Broschüre Anarchism und Anarcho-Syndikalism (1938)
nimmt er direkt, namentlich Bezug auf Friedrich Nietzsche, und
paraphrasiert einzelne Passagen. Dabei erklärt er aber deutlich:
„Nietzsche [...] was not an anarchist“ (Nietzsche, Anarchism). Die Bezugnahme
auf Nietzsche erscheint besonders vor dem Hintergrund, dass zu jener
Zeit bereits die „Nazifizierung“ Nietzsches in Deutschland von statten
gegangen ist, als ein sehr spannender Fakt.
[Zwischenfazit]
Die
bisher durchgeführte Analyse und Deskription der anarchistischen
Nietzsche-Rezeption in Deutschland macht deutlich, dass Nietzsche
strömungsübergreifend eine wichtige Referenz für anarchistisches Denken
darstellte. Neben der Adoption seines Stils, feierte man ihn als
Befreier und Prophet eines zukünftigen Menschen in einer befreiten
Gesellschaft. Nietzsche widerfuhr dabei eine sozialrevolutionäre
Umdeutung bzw. Interpretation, die u.a. mit der Gleichsetzung seiner
Philosophie mit der von Max Stirner einherging.
[Einordnung Landauers in den Diskurs]
Im Gegensatz zu den meisten, hier zitierten Autoren, bei denen sich i.d.R. lediglich die Rezeption vom Zarathustra
nachweisen läßt, finden wir bei bei Landauer eine darüber hinausgehende
Rezeption, die auch andere Werke berücksichtigt. Besonders in seiner
Gefängniszeit in den 90er Jahren hat er intensiv Nietzsche studiert.
Weiterhin
ist ein wichtiger Unterschied, dass die Rezeption nicht auf eine kurze
Episode in seinem Leben festzulegen ist, sondern sich ab 1890 bis zu
seiner Ermordung im Werk wiederfinden läßt – wenn auch in
unterschiedlich hoher Quantität. Gerade in den späteren Jahren ist seine
Sicht auf Nietzsche distanzierter.
Ein
weiterer Unterschied – wenn auch kein Alleinstellungsmerkmal – ist,
dass Landauer die Differenzen zwischen dem Denken Nietzsches und
Stirners bemerkt und kommentiert. Es erfolgt keine symbiotische
Gleichsetzung der beiden Denker, wie es in jenen Jahren häufig
anzutreffen ist.
In
vielen anderen Aspekten reiht er sich aber nahtlos in den
anarchistischen Diskurs ein. Wie seine Weggefährten vom
Friedrichshagener Dichterkreis und den Jungen, interpretiert Landauer
Nietzsche aus einer sozialrevolutionären Perspektive. Für ihn ist
Nietzsche somit auch mit einem Akt der Befreiung verbunden – u.a. als
Akt der Befreiung vom marxistisch-geprägten Sozialismus. Ebenso erliegt
er seinem Stil, den er sowohl in Briefen als auch in seinem Roman Der Todesprediger kopiert.
Die
sehr frühe und sein Leben lang anhaltende Rezeption des
nietzscheanischen Werkes, die Übernahme seines Stils, die
sozialrevolutionäre Auslegung sowie der wiederholte Rückgriff auf
Nietzsche bei seinen Argumentationen – gerade in Bezug auf eine
Auseinandersetzung mit dem marxistisch-geprägten Sozialismus – machen
ihn zu einem einzigartigen Beispiel für anarchistische
Nietzsche-Rezeption. Er verkörpert in seinem Werk ziemlich alle Facetten
jener anarchistischen Nietzsche-Rezeption.
[Quellen und Literatur]
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St. E.: After the Death of God: Varities of Nietzschean Religion, in:
Nietzsche-Studien Nr. 17, Walter de Gruyter Berlin / New York 1988, S.
218-249.
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Behler,
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in: Nietzsche-Studien Nr. 13, Walter de Gruyter Berlin / New York 1984 ,
S. 503-520.
Bernstein,
Eduard: Die soziale Dimension des Anarchismus 1891/2
(https://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/19jhd/ebernstein-doktrin2.html).
Brupbacher, Fritz: 60 Jahre Ketzer, Limmat Verlag Zürich 1983.
Delf,
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Manuskripte Gustav Landauers zur frühen Nietzsche-Rezeption, Teil 1, in:
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Eisner,
Kurt: Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel der
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Fähnders,
Walter: Anarchismus und Literatur. Ein vergessenes Kapitel deutscher
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Flake, Otto: Bücher, in: Die Weltbühne, Nr. 25 (19), 1923, S. 718-721.
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Otto: Zur Überwindung der kulturellen Krise, in: Ders.: Von
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2000, S. 59-62.
von Hartmann, Eduard: Nietzsches „Neue Moral“. In: Preussische Jahrbücher, 67. Jg., Heft 5, 1891, S. 504–521.
Hillebrand,
Bruno (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. 1. Texte zur
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Niemeyer Verlag München und Tübingen
Holste, Christine: Nietzsche vu par Gustav Landauer: entre nihilisme, politique et Jugenstil, in: Dominique Bourel
/ Jacques Le Rider (Hrsg.): De Sils-Maria à Jerusalem. Nietzsche et le
judaisme, La nuit surveillee Paris 1991, S. 147-180.
Iliopoulos, Christos: Nietzsche & Anarchism, An Elective Affinity and a Nietzschean reading of the December '08 revolt in Athens, Vernon Press Wilmington 2019.
Kaiser, Corinna R.: Gustav Landauer als Schriftsteller. Sprache, Schweigen, Musik, Walter de Gruyter Berlin / Boston 2014.
Kauffeldt, Rolf: Erich Mühsam, W. Fink / UTB München 1983, S. 38-47.
Lamberechts,
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[1]Eine
Rezeption Nietzsches von deutschsprachigen Anarchistinnen konnte ich
bislang nicht nachweisen. Aus diesem Grund verwende ich hier lediglich
die männliche Form.
[2]Vgl. Eduard von Hartmann: Nietzsches „Neue Moral“. In: Preussische Jahrbücher, 67. Jg., Heft 5, 1891, S. 504–521.
[3]Vgl. auch: Eduard Bernstein, Die soziale Doktrin des Anarchismus (1891/2).
[4]Steiner bekannte sich zu jener Zeit noch zum Individualanarchismus – John Henry Mackay‘scher Prägung.